Heute geht es um ein Dogma, das allen sektiererischen Gemeinschaften gemeinsam ist, wie sehr sie sich im übrigen untereinander bekämpfen mögen. Ursprünglich die Voraussetzung für den individuellen Widerstand gegen die starrgewordenen theologisch-politischen Ordnungen aller Zeiten und Orte entworfen, ist es heute zum ubiquitären Instrument der totalen Gleichschaltung geworden.

Ich meine das Dogma von der „Innerlichkeit“ der Moral. Ob es die frühen Christen waren, die mit ihrer Standhaftigkeit aus einem „Inquisitor“ des Imperium Romanum den Kirchenvater Tertullian machten, ob es die Quaker waren, die ihrem „inneren Licht“ mehr vertrauten als den Dogmen aller zu ihrer Zeit relevanten und verknöchernden Kirchen, ob es die indischen Mystiker waren oder die alewitischen Muslime: immer ist es der tief im Individuum verwurzelte Glaube an eine Wahrheit, die die in der äußeren Welt verbreitete übersteigt, der einzelne Helden und ganze verfolgte Gemeinschaften stark macht.

Aber „die Macht“ (womit hier jede Art von machtförmig operierender Organisation gemeint ist, die sich der absoluten Loyalität ihrer Mitglieder vergewissern will) ist nicht faul und hat das Denken der „Verinnerlichung“ längst an sich gebracht. Was der freundliche selbsternannte Mystiker hier mitteilt, ist in der Zeit des Spätkapitalismus und seiner Kritik gleichermaßen zu einem weiteren Gängelband geworden.

Wie das? Ich will mich einer Erklärung vorsichtig nähern – denn wie jeder halbwegs eigensinnige Mensch habe auch ich immer mal wieder mit größeren dogmatischen Einheiten zu tun, die mich auf die eine oder andere Weise korrigieren wollen. Wann es genau angefangen hat, weiß ich gar nicht. Aber irgendwann war ich so definitiv auf der Objektseite von Ausforschung und Umerziehung gelandet, dass in manchen sozialen Kontexten einfach nichts mehr half. Je erbitterter und länger ich Widerstand leistete, desto härter wurden die Maßnahmen. Ab und zu ließen diejenigen, die generell für Umerziehung, vorzugsweise an anderen, sind, auf ihren Internetseiten und Blogs, in ihren Büchern und Vorträgen, und die ganz Dreisten sogar in Gesprächen mit mir, ziemlich unverblümt durchblicken, wie sie sich das dachten. Und das geht im Kleinen wie im Großen nach dem Prinzip „carte blanche“:

Erst einmal muss alles weg. Alles, was du so an Gewohnheiten hast, ist schlecht und muss weg. Also etwa Rauchen, Alkohol Trinken, das Internet Benutzen, gut Essen – alles weg. Rigoros. Sex sowieso, aber das ergibt sich bei Frauen über 50 meist ohnehin von ganz allein, ebenso wie fast alle jugendlicheren Formen der Eitelkeit: wo nicht, wird nachgeholfen, alles muss weg. (Und die gewisse Liebe zu Gepflegtheit und Eleganz, die auch die ältere Frau durchaus bei sich haben kann, ihrer eigenen Ansicht nach sogar als soziale Tugend, denn sie will niemandem unangenehm sein, die gilt diesen Leuten selbstverständlich ebenfalls als sündige Eitelkeit, ebenso jeder Versuch, mit den eigenen Arbeiten anerkannt zu werden, stört alles die totale Hingabe, klar soweit?) Kommunikation mit Menschen, die du liebst? Weg damit, wenn sie nicht zur Familie oder zu sonst einer Zielgruppe gehören.

Eine Veränderung im Sinne der dogmatischen Blöcke, seien es Kirchen, politische Loyalitätsvereine, wirtschaftliche Verwerter einer intrinsisch motivierten Führungs- oder Zuarbeiterpersönlichkeit, oder Familienverbände, wird man dann am besten erzwingen, wenn man das Objekt der emotionalen Planung isoliert, beobachtet und mit verschiedenen Experimenten solange „auf sich selbst zurückwirft“, bis es ganz bei sich angekommen ist und nun dann das will, von dem die Entscheider wollen, dass es das will. Denn auch dieses „in einer opaken Situation ganz auf das eigene Begehren zurück geworfen sein“, das zum Beispiel Brachialtraumatologen empfehlen, implementiert ja eine Lehre vom „es ist alles in dir“. Die aber natürlich, sonst zeigte die Kamera nicht den Guru, eben doch von außen implementiert werden muss – und das „Zielindividuum“ der Veränderung nur als Experimentierfeld für die eigene Theorie nutzt.

„Wenn du an der äußeren Welt wirklich nichts mehr ändern kannst, dann wirst du dich endlich ändern“, frohlocken Anhänger dieser Perversion des Gedankens der Innerlichkeit auf ihren Facebookseiten. Und die Freunde der „Sündenverschärfung“ als Voraussetzung für die Heilung posten Videos, auf denen Katzen zu sehen sind, die gegen Spiegelwände springen und nach mehreren vergeblichen Anläufen beginnen, Whisky zu trinken, bis sie leblos in die Ecken sinken. Du musst ganz zerschmettert sein, predigt der Evangelikale (gerade heute in den USA von Trump kollektiv und prinzipiell aufgewertet), bevor du dann umkehrst und dein Leben selbst in die Hand nimmst, dich zugleich Gott und der Tugend ganz überantwortend.

Sagen Sie mir nicht, dass die Psychoanalyse da eine Ausnahme machte. Auch Psychoanalytiker, besonders die uneingeladenen Fernanalytiker, die schon Karl Kraus in Wien so sehr belästigt haben, dass er vom freundwilligen Hoffer zum giftspeienden Feind dieser Bewegung wurde, finden es richtig, auf einen verstärkten Leidensdruck zu setzen, damit sich potentielle Patient*inn*en schließlich bewegen, ihre Widerstände aufgeben und zu ihnen kommen.

Erzählst du einem dieser Subjekte, dass dir die Schachtel- und Stapelbauweise deiner Stadt und deiner Gesellschaft zuweilen auf die Nerven geht, dann setzen sie ihre verspiegelten Sonnenbrillen auf und sagen: du siehst nur die Stapel in deinem eigenen Laden und projizierst sie nach außen. Räum erstmal die Pappkartons zur Seite und bring Licht und Luft in deinen Laden, dann wird das schon. Es dauert natürlich, ist ein schmerzhafter Prozess, muss täglich geleistet werden, erinnern, wiederholen, durcharbeiten usw. – aber eines Tages wirst du verstehen: es ist alles in dir.

Allerdings: Psychoanalytiker und Philosophen haben doch einen Vorzug. Manche von ihnen jedenfalls, diejenigen, die ich die soliden nennen würde, wenn mir das zustünde.

Denen begegne natürlich auch ich mit Vernunft und sage, okay, ich schau nochmal nach. Ich räume auf, mein Laden blitzt vielleicht nicht, aber ist ordentlich genug, ein Rest bleibt immer, das erlauben sie durchaus, also die Guten, die wissen, wie blöd der „gib alles“ Schrei in Wahrheit ist – und dann trete ich vor die Tür, lade die Psychoanalytiker ein, sich mit mir über Innen und Außen zu unterhalten. Wenn alles gut geht, kommen wir darin überein, dass wir im Inneren eine relativ gewöhnlich gemischte Ausstattung sehen, und außen: ungerührt und unbeeinflussbar durch unsere innere Aufgeräumtheit natürlich wieder nur und weiterhin das Übliche. Stapelbauweise, Kolosse, Gebäude, die ihren guten Sinn haben, die man sich mit ein bisschen ästhetischer Theorie schön gucken kann, einen Himmel, der grau ist, wovon wir wissen, dass das der Seele, an die wir gemeinsam glauben, nicht immer gut tut. Das alles kriegen wir nicht einfach so weg, zu Sprengmaßnahmen wollen wir nicht greifen, wir wissen auch, dass städtische Verdichtung ihre Vorzüge hat, aber wir können uns erlauben, anzuerkennen, dass wir etwas gegen die Tristesse tun müssen, wenn wir ein bisschen innere Freiheit gewinnen möchten.

Ob diese Stadtluft noch frei macht? Es scheint immer weniger garantiert zu sein. Heutige Ideologien funktionieren zumeist so gut, dass sie in Stadt und Land die Menschen zur Unfreiheit treiben.

Was immer einer, der in den Städten sein Glück sucht, tun will: er soll beweisen, dass er bereit ist, „alles“ dafür zu tun. Du willst einen Aushilfsjob bei MacDonald? Zeig, dass du bereit bist, den Burger-Gedanken ganz und gar zu deiner Sache zu machen. Du willst eine Konzertkarte? Zeig, dass du bereit bist, dafür um 5.00 morgens aufzustehen. Du willst eine Wohnung? Du kannst sie haben, wenn du mir beweist, dass du diese, genau diese, wirklich willst. Ist mir allen Ernstes mal passiert, 2011 in Berlin. Offenbar ist mein Beweis zu schwach ausgefallen: ich habe nicht versucht, den Vermieter zu verführen, ich habe nicht versucht, ihn zu bestechen, ich habe ihn nicht gestalkt, ich habe einfach nur erstaunt gefragt, was er wohl glaube, warum ich mich in die Besichtigungsschlange gestellt und mich nach der Besichtigung zu ihm vorgekämpft und mit ihm ewig herum diskutiert habe.

Gehst du kopfschüttelnd vom Platz – selbst da, wo es dir wirklich leid tut, dass du nicht landen konntest – wird dir zuverlässig hinterhergerufen: du musst dein Leben ändern! Bei dir muss noch so viel passieren, bis du mal was merkst, Mannomann! Usw. Das rufen nicht nur Mächtige (kleine Mächtige wie Vermieter oder Leiter von MacDonalds-Filialen ebenso wie größere Mächtige). Das rufen auch diese Berater und Helfer, diese Kulturfolger, die nirgends ausbleiben – denn sie ernähren sich ja von den Hobelspänen, die entstehen, wo anderen, potentiellen Werkstücken von institutionellen oder religiösen oder nationalistischen „Instrumentenbauern“, die „Menschen formen“ wollen, deren Widerstand abgehobelt wird.

Über Jahre hat mich das belastet. Ob an den Universitäten, im „Ehrenamt“ oder „in der Liebe“ – immer hatte irgendwer was an meiner Motivation zu meckern. Sie war nicht intrinsisch genug, oder wenigstens musste man das erst noch prüfen, ich schien nicht laut und nicht überzeugt genug hinaus zu posaunen, dass ich das alles auch ganz ohne Geld leisten, dass ich wild darauf bin, Teil von etwas zu sein, das größer ist als ich, dass ich wirklich wirklich auch bei Treulosigkeit des anderen noch total treu sein würde meinerseits, dass es mir absolut auf den anderen, auf Gott, Mensch oder Gemeinwohl um seiner selbst willen ankomme und alles dieses, dass ich diese Schreiberei wirklich absolut von mir aus und leidenschaftlich mache, und was dergleichen Blödsinn mehr ist.

Blödsinn? Ja. Blödsinn. Nicht, weil es falsch wäre, dass man „in sich selbst“ fest ist, sein Leben in die Hand nimmt usw. Das bleibt weiterhin nicht nur der Schlüssel zum „Erfolg“, es bleibt auch wichtig für die Freiheit noch unter unwahrscheinlichsten Bedingungen. Aber das kritische, und zwar gerade das kritische Denken in und mit Religionen, hat sich nicht aus Versehen aus der Sphäre der totalen Innerlichkeit hinaus in die des Zwischenmenschlichen bewegt – und damit die radikale Innerlichkeit dem säkularisierten institutionellen und wirtschaftlichen Gebrauch als Hobelspan überlassen.

Seither gilt: Wo ich eine Beziehung zwischen Zweien (dabei kann auch von mir aus eine Beziehung zu einer Sache, einem Gott, einer Öffentlichkeit gemeint sein) wirklich ernst nehme – gerade da ist dann auch die Wirklichkeit des anderen, die mir wirklich und wahrhaftig UNVERFÜGBARE Wirklichkeit des oder der ANDEREN, nicht egal. Und wenn der andere nicht will, wie ich will, dann liegt das womöglich nicht an mir, sondern an ihm oder ihr. Und wenn ich nicht will, wie der andere: ja. Dann liegt das womöglich an mir. Oder doch an ihm? Na, wenn das so ist, dann kann ja zur Abwechslung ich mal sagen: DU musst dein Leben ändern.

(Wenn mir der andere wirklich lieb ist, sage ich aber genau das natürlich nicht)

 

Du musst dein Leben ändern, oder: die vollständige Vermüllung einer alten Weisheit

2 Kommentare zu „Du musst dein Leben ändern, oder: die vollständige Vermüllung einer alten Weisheit

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