Es ist der erste März 2025. Gestern Abend wurde die Welt Zeugin einer Live-Show aus dem Oval Office. Leviathan ließ sich bei einem seiner unwürdigsten Auftritte filmen. Was soll das auf einem winzigen Blog, der sich mit Religion beschäftigt, gar noch dafür wirbt, über dieses Thema so heiter und entspannt wie möglich zu sprechen? Als ich das Video von der Szene sah, dachte ich an den Auftritt des Gottes im biblischen Buch Hiob. Aus dem Wettersturm, wie Luther übersetzt, antwortet ein moralisch wenig überzeugender Gott den Klagen des Menschen, der von ihm bewusst gequält wird und ihm trotzdem die Treue hält. Die meisten traditionellen Auslegungen versuchen zu sagen, dass Hiob sich am Ende unterwirft und deswegen von Gott „wiederhergestellt“ wird. Aber Hiob ergibt sich nicht wirklich. Er sagt nur, er habe verstanden. Und verstanden hat er, dass Gott nicht moralisch, aber übermächtig ist – während ihm selbst, dem Menschen, nur Staub und Asche zu Gebote stehen. Die Einsicht in seine Ohnmacht ist Hiobs letztes Wort. Es ist auch das letzte Wort im Dialog zwischen Gott und Hiob. Gott antwortet ihm darauf nicht mehr, wendet sich stattdessen an die erziehlich daherpredigenden Freunde, die sich über die Ursache von Hiobs Leiden unbedingt täuschen wollten und lieber die Schuld bei Hiob suchten, und sagt ihnen: „Ihr habt nicht richtig zu mir geredet wie mein Knecht Hiob.“ Was Hiob sich bei der anschließenden Wiederherstellung denkt und ob er den Quälgeistern vergibt, ist nicht überliefert. Und ob Gott sich seines Planspiels mit der sadistischen „Versuchung“ Hiobs schämt, wie man es aus den letzten Versen des Buches schließen könnte und wie es einer moralisch denkenden Gottheit anstünde, wird auch nicht gesagt. Aber er ändert mal sein Verhalten – statt mit seinen Monstern Leviathan und Behemot zu protzen und den Leidenden einzuschüchtern wie zu Beginn seiner Antwort, gibt er dem geplagten Menschen wieder, was er kann. Ich meine seit langem, dass man in diesem Buch die erste Selbstermächtigung eines in die Ohnmacht geballerten Menschen lesen kann: Der Mensch gesteht seine Ohnmacht, ohne sich jedoch der größeren Macht zu unterwerfen. Er behält sich sein eigenes Urteil vor. Er erkennt vielleicht immer noch Gott als den ursprünglichen Gesetzgeber an – aber er konfrontiert ihn auch mit der Feststellung, dass dieser Gott selbst sich als Allmächtiger keineswegs an das moralische Gesetz hält, an dem er seine Knechte zu messen unternimmt. Damit ist Hiob vielleicht der erste freie Mensch der Weltliteratur – frei durch Selbstbegrenzung und Selbstbindung an ein moralisches Gesetz, das über aller Machtpolitik (und natürlich auch über der „heidnischen“ Idee, nach der man sein unabänderliches Schicksal „lieben“ müsse) steht und an dem deswegen selbst der Allmächtige gemessen wird.

 

Diese Antwort eines Mannes aus dem Lande Uz ist für mich immer noch die gültigste Alternative zur schlichten Schicksalsergebenheit im Unglück, die meiner Ansicht nach irrtümlich in diesen Text zumeist hineingelesen wird. Die Linie zwischen Einsicht in die eigene Ohnmacht und Unterwerfung unter eine Übermacht ist freilich sehr fein. Viel feiner als der Unterschied zwischen dem protzenden Gott des Hiobbuches und einem seiner monströsen Geschöpfe, dem Leviathan, den Thomas Hobbes zur regulierenden Allmachtsmaschine in die politische Theorie einführte. Dem Leviathan stehen gewaltige Machtmittel zur Verfügung. Denken aber, sich auf einen Dialog einlassen, gar sich von einem falschen Weg wieder abkehren und ein Recht in der Klage des von ihm Gequälten anerkennen, kann nur sein Schöpfer. Den Leviathan stelle ich mir eher vor wie ein Wesen, das alle schwächeren anherrscht und von ihnen Unterwerfung verlangt, für die es allenfalls dann einen Schutz bietet, wenn ihm das gerade in den Kram passt.

Von solchen Herrschern wurde Europa sehr lange regiert. Gestern wurden wir wieder robust daran erinnert, dass das jederzeit wieder kommen kann. Das ganze lang entwickelte und fein ziselierte System von Gewaltenteilung, Begrenzung der Mächtigen durch Institutionen und gute Erziehung kann in kürzester Zeit nicht nur von außen überrollt werden, sondern auch von innen zusammenstürzen. Und dann? Dann sind wir wohlerzogenen Gesinnungsmoralist:innen plötzlich konfrontiert mit nacktem Machtgebaren.

 

Die kleinen und mittleren Bauern in Norddeutschland kannten das. In ihren Familien kursieren oft lange Traditionen von Geschichten über ihre wechselnden Herrschaften. Deren Vornehmtuerei erfährt oft beißenden Spott. Aber diese selben Bauern haben wohl geahnt, dass eine „standesgemäße“ Erziehung und Instituierung der Führenden jedenfalls besser ist als gar keine Erziehung. Für unerzogene Emporkömmlinge wechselt ihre Missbilligung vom Spottgang ins Derbe: „Wenn Schiet wat ward, ward allens Schiet.“

 

Wer als bereits Erzogener zum Ziel religiöser oder politischer Erziehungsmaßnahmen wird, kann sich da weiß Gott oft belästigt fühlen. Oft habe ich auf diesem Blog über Versuche, „menschliche Diamanten zu schleifen“ und alle möglichen Irrwege der Gesinnungserziehung gespottet oder geklagt. Davon nehme ich auch heute nichts zurück. Aber angesichts der ungeheuerlichen Rohheit, die die derzeitige US-Regierung kennzeichnet, fiel mir als erstes dieser Spruch wieder ein, der auf der schlewig-holsteinischen Seite meiner Herkunftsfamilie kursiert, und ich gestatte mir, ihn hier auszulegen wie andere Traditionen: Zu Dreck („Schiet“) wird jeder Inhaber eines politischen Amtes, wenn er die Nebenwirkung einer Machtposition – Verehrungsbezeugungen aus den niederen Rängen – mit deren Essenz verwechselt und rigoros einfordert. Diese Lektion musste selbst der allmächtige Gott des Hiobbuches in der Frühzeit der theologischen Literatur lernen – und die gesamte aufklärerische Tendenz des ethischen Monotheismus, bis hin zur Aufkklärung und über sie hinaus, lehrt sie auf verschiedene Weise. Inzwischen sind die Massen der theologischen und der nichttheologischen Literaturen ins Ungeheuerliche angewachsen. Wir haben sogar ganze Bibliotheken psychologischer Literatur, in der die Fähigkeit, mit der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten auf der einen und mit einer verführerischen Machtfülle auf der anderen Seite umzugehen, in ihrer Entwicklung minutiös systematisiert erklärt wird. Und doch bleibt die Linie zwischen Anerkennung der eigenen Grenzen und Unterwerfung unter eine Übermacht nach wie vor für viele Menschen unauffindbar zu fein. Würde sich sonst irgendwer freiwillig einem brüllenden Leviathan unterwerfen?

 

 

 

 

 

 

 

Leviathan im Oval Office

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