Das Gesetz der Feindschaft töten? – Gedanken zu Opfer und Herrschaft Christi

 

Universitätsgottesdienst an der Potsdamer Friedenskirche am Sonntag, den 9.6.2024

(https://www.uni-potsdam.de/de/js-rw/institut/profchristentum/prof-dr-johann-ev-hafner/hochschulgottesdienst)

 

Predigttext:

Eph 2,11-22

 

„11 Darum gedenket daran, dass ihr, die ihr weiland nach dem Fleisch Heiden gewesen seid und die Vorhaut genannt wurdet von denen, die genannt sind die Beschneidung nach dem Fleisch, die mit der Hand geschieht, 12, dass ihr zu derselbigen Zeit waret ohne Christum, fremde und außer der Bürgerschaft Israels, und fremde von den Testamenten der Verheißung; daher ihr keine Hoffnung hattet, und waret ohne Gott in der Welt. 13 Nun aber, die ihr in Christo Jesu seid, und weiland ferne gewesen, seid nun nahe geworden durch das Blut Christi. 14 Denn er  ist unser Friede, der aus beiden eines hat gemacht, und hat abgebrochen den Zaun, der dazwischen war, in dem, dass er durch sein Fleisch wegnahm die Feindschaft, 15 nemlich das Gesetz, so in Geboten gestellet war, auf dass er aus zween Einen neuen Menschen in ihm selber schaffete und Frieden machete 16 und dass er beide versöhnete mit Gott in einem Leibe durch das Kreuz, und hat die Feindschaft getötet durch sich selbst, 17 und ist gekommen, hat verkündiget im Evangelium den Frieden euch, die ihr ferne waret, und denen, die nahe waren; denn durch ihn haben wir Zugang alle beide in einem Geiste zum Vater. 19 So seyd ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen 20 und Gottes Hausgenossen, erbauet auf dem Grund der Apostel und Propheten, 21 da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchen der ganze Bau in einander gefüget wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn, 22 auf welchem auch ihr miterbauet werdet zu einer Behausung Gottes im Geiste.“

 

(Übersetzung Martin Luther, zitiert nach dem Tetraglotton von Theile und Stier, 1858)

 

 

 

Liebe Gemeinde!

 

Letzte Woche wurde in der Normandie der 80. Jahrestag des D-Day feierlich begangen. Der deutsche Bundeskanzler war als sogenannter „stiller Teilnehmer“ – ohne Rede und ohne Kranzniederlegung – dabei. Dass überhaupt ein Repräsentant Deutschlands dabei ist – was für eine Errungenschaft! Dass er dabei keinen großen Auftritt hat – es ist nur zu begreiflich. Als die Europäer begannen, einen neuen Verbund zu gründen, in dem die alten Feindschaften erledigt sein sollen – da war nicht allen selbstverständlich, dass Deutsche dabei waren. Würden sie dazugehören, obwohl Nachfahren derer, gegen die die neuen Freunde unter großen Opfern gekämpft haben? Wie würden sie ihrer eigenen Opfer gedenken, die für eine grauenvoll schlechte Sache gestorben sind?

 

Normalerweise scheinen diese und ähnliche Fragen längst beantwortet in der relativen Erfolgsgeschichte der EU, in der Deutschland eine gewichtige Rolle spielt. Die Vergangenheit schlummert in wohlgeordneten Archiven – deren Arbeit der heutige Internationale Tag der Archive würdigen soll.

 

Jede Kultur hat in irgendeiner Form Archive. Was dort verwahrt wird, wirkt in uns nach, ob wir wollen oder nicht. Es kann unsere Erfolgsgeschichten bestärken – oder bedrohen. An Gedenktagen fertigen wir aus den Archivbeständen wiederholbare Sätze wie „die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson“ – im übrigen kümmern wir uns um unsere kleinen Leben mit Steuererklärung und Schwiegermutterbesuch. Manchen ist es damit immer noch so behaglich, dass sie glauben, andere aus ihrer sogenannten Komfortzone brüllen zu müssen. Andere haben längst begonnen, den Komfortzonen der vielen friedlichen europäischen Jahrzehnte nachzutrauern und mit Schrecken zu realisieren, dass das Wort Sterben wieder öfter mit der Präposition „für“ zusammenkommt: Dass wieder Lebensopfer gebracht werden, auch hier in Europa. Nicht so theoretisch verwaschene – Verkehrsopfer für die Mobilität, Krebsopfer für das Leben im Wohlstand – sondern richtig, „hardcore-sacrificing“: Soldaten fallen in der Ukraine für die Unabhängigkeit ihres Landes – und irgendwie bedrückend spürbar auch für uns. Dann ist da die Gewalt im eigenen Land: Ein Polizist in Mannheim soll einen sogenannten Islamkritiker schützen und wird ermordet. Gestorben für? Ist er für den gestorben, den er schützte? Ist er für die Demokratie und die freie Meinungsäußerung gestorben? Für wen oder was sterben die russischen Soldaten im Ukrainekrieg? Dieses Sterben für – ist es nicht im innersten Kern hochproblematisch?

 

Sein Leben für etwas zu rsikieren – das können wir schon noch denken. Der Feuerwehrmann setzt sein Leben aufs Spiel in einem gefährlichen Einsatz. Er möchte nicht sterben, aber er riskiert es, um anderen zu helfen. Kommt er dann um, verneigen wir uns. Einen Tod mit einem vorab mitbedachten Sinn zu versehen – das kann Hinterbliebenen manchmal helfen. Einen Tod nachträglich mit einem Sinn zu versehen, kann aber auch eine grobe Vereinnahmung sein. Der zu Tode gequälte politische Gefangene Nawalny – ja, er hat sein Leben furchtlos aufs Spiel gesetzt. Aber da sind die, die ihn zu Tode gebracht haben: Wollen wir die als Beteiligte an einem Sinngeschehen ansehen?

 

Der Predigttext für den heutigen Sonntag setzt einen gewaltigen Sinngebungsakt schon voraus: Nach dem Tod Jesu am Kreuz hatte der Apostel Paulus nicht nur die Auferstehungserzählung der ersten Apostel weiterverbreitet. Er hatte nicht nur verkündet, dass Jesus für uns alle gestorben sei – sondern er hatte auch, wie es Ed Parish Sanders in seiner berühmten Formel „erst die Lösung, dann das Problem“ ausdrückt, einen universalen Sinn in dieses Geschehen gebracht: Jesus war stellvertretend für unsere tod- und fluchwürdigen Sünden gestorben. Mit unseren Sünden hatten wir den Tod verdient, aber er hatte den Tod überwunden. Jetzt müssen nur noch alle daran glauben – dann sind sie von aller Schuld erlöst, auch wenn sie vor jedem Gesetz dieser Welt schuldig wären.

Paulus hatte auf seinen Missionsreisen schon ein paar Gemeinden im Mittelmeerraum von seiner – in Wahrheit höchst merkwürdigen und komplizierten – Lehre überzeugt. Sie hielten auch nach seinem Tod zusammen. Das Gemeinschaftsgebäude war freilich noch etwas fragil, es gab innere Querelen, die Paulus wohl zu Lebzeiten ein bisschen befrieden konnte. Nach seinem Tod müssen einige seiner Schüler, unter ihnen der Verfasser des Epheserbriefes, versucht haben, die Sache auch ohne das Charisma des Gründers auf dauerhafte Beine zu stellen. Der Autor unseres Textes fügt der Lehre vom Sinn des Kreuzestodes Eigenes hinzu, wenn er sagt: Christus habe „ten echtran“, die Feindschaft selbst, durch sein Fleisch weggenommen. Gleich zweimal wird dieser Sieg über die Feindschaft in der überlieferten Gestalt unseres Abschnitts eingeschärft.

 

In langen Sätzen formuliert, eher nicht im Stile des Apostels Paulus, geschrieben in den Jahren nach der Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels, geht dieser Brief ziemlich direkt auf ein paar wohlbekannte Gegensätze los: da ist einmal der zwischen Sarx und Pneuma, dem sogenannten Fleisch und dem Geist. Dann ist da der Gegensatz zwischen einst und jetzt. Und beide drehen sich um den Gegensatz zwischen Vorhaut und Beschneidung, die als Namen für miteinander verfeindete Gruppen verwendet werden.

 

Erst seit einigen Jahrzehnten betont die neutestamentliche Forschung, wie sehr es hier um innerchristliche Auseinandersetzungen geht. Denn erst durch die Theologie nach Auschwitz wurde die lange selbstverständliche Idee, das Christentum habe das Judentum überwunden, in Frage gestellt. Auch wird seither immer deutlicher, dass wir statt einer klaren „Vater-Sohn-Situation“ zwischen den beiden Religionen in der Spätantike eine eher unübersichtliche Gemengelage annehmen sollten. In Kleinasien gab es aktive und ehemalige „Heiden“, da waren Menschen, die aus irgendeinem der vielen hellenistischen Kulte kamen und die jüdische Lebensweise und Tradition interessant fanden, da gab es Enthusiasten gnostischer und ähnlicher Erlösungslehren, und da gab es Menschen, die sich mit oder ohne Jesus, mit oder ohne Logostheologie, mit oder ohne Sühnopferlehre, mit oder ohne Paulus als Juden verstanden. In wechselseitiger Abgrenzung brachten sich das Christentum und das Judentum erst allmählich und gegenseitig als deutlich kenntliche Gebilde hervor.  Jeder Text im Kanon und in den Archiven der christlichen, jüdischen und paganen Traditionen leistete seinen eigenen Beitrag zur Erzeugung jener „-tümer“, die in permanenter Bewegung waren. Der Epheserbrief ist ein Gruß von der Baustelle.

 

In unserem Abschnitt geht es dem Verfasser zunächst wohl darum, Heidenchristen bei der Stange zu halten. Vielleicht waren sie in Versuchung, nach dem Sieg der Römer über die aufständischen Juden in Palästina ihre Gemeinschaft mit den Judenchristen, vielleicht gar ihre Verbindung zum Judentum überhaupt aufzukündigen? Um dem etwas entgegenzusetzen, eignet der Verfasser sich zwei bekannte Traditionen an: Zunächst lockt er mit dem hebräischen Erwählungsgedanken, erinnert die Heidenchristen daran, dass sie einst begehrt hatten, dazu zu gehören: Juden waren attraktiv als eine in der bekannten Welt gut vernetzte Gemeinschaft, hatten in ihrer durch den Festkalender und den Schabbat geregelten Lebensweise einen bemerkenswerten Zusammenhalt und durch ihre Hoffnung auf die Verheißung eine gewisse Resilienz im Umgang mit Besatzungsmächten bewiesen. Aber eine hohe Barriere für die Zugehörigkeit war die Beschneidung „en sarki“. Die steckt ein erwachsener Mann nicht so leicht weg wie ein 8 Tage alter Säugling. Ein kränkendes Hindernis, das von den Paulusleuten abgeräumt worden war.

 

Und nun? Cultural appropriation gelungen? Erwählungsidee der hebräischen Tradition absorbiert? Jedenfalls sind sie also jetzt dabei, weil da jemand für sie gestorben ist? Er hat nicht nur ein bisschen Vorhaut geopfert, sondern Leib und Leben, um den Interessierten auch das kleine Opfer der Beschneidung zu ersparen? Der Verfasser legt nach – nun unter Rückgriff auf eine pagane Mastererzählung:  In der hellenistischen Herrscherideologie und im Imperium Romanum war es geläufig, vom Reich als einem Leib zu sprechen, der vom nomos oder logos des Herrschers zusammengehalten wurde. Titus Livius überliefert in Ab urbe condita die Fabel des Menenius Agrippa. Die Gemeinschaft ist ein Leib, der Herrscher der Kopf. Streit der Glieder untereinander, gar ein Aufstand der Glieder gegen den Kopf, würde für alle im Chaos enden – wenn aber das Haupt seine Führungsverantwortung ungestört wahrnehmen kann, wenn die Glieder und Organe als ein Leib ihre Funktion erfüllen, dann bleibt das Ganze vital und kraftvoll. Wie der Hebräische Erwählungsgedanke, so wird auch die pagane Idee vom Herrscher als dem Haupt der Gemeinschaft für die christliche Gemeinde überbietend angeeignet. Und zwar durch das Blut des Hauptes einerseits, die dadurch angeblich erwirkte vollständige Abstraktion andererseits.

 

In seinem 30 Jahre alten Buch über Pax Christi et Pax Caesaris beschrieb Eberhard Faust diesen Vorgang in schönstem Theologendeutsch:

 

„Der Kaiser [als logos empsychos, GP] bringt die unterworfenen Völker zum Typ der neuen Menschheit, in der die Völker Rom als gemeinsame Patria ansehen und die ethnokulturellen Feindseligkeiten überwunden sind. … Demgegenüber schafft Christus den Typ des neuen Menschen, bei dem die Zweiheit der einstigen ethnokulturellen Separation zur trennungsfreien Einsheit und zur Friedensgemeinschaft im Rahmen des Leibes Christi überwunden sind.“

 

Wo es so schön ist, darf man gewarnt sein. Der Preis für diese vollständige Überwindungsleistung fällt vielleicht nur denen auf, die sich dahin erzogen haben, auf antijüdische Töne in der eigenen Tradition zu achten. Faust geht tatsächlich weiter als der Epheserbrief selbst. Er behauptet, der Verfasser parallelisiere die Ankunft des flavischen Kaisers in Rom antithetisch mit der Ankunft Jesu: „Anders als in der politischen Ereignisfolge hat Christus nach E 2 die Feindschaft selbst am Kreuz getötet, nicht etwa menschliche Feinde: Mit dem Verlassen des Sarx-Bereiches am Kreuz wurde auch die Geltung des ethnokulturell trennenden Ritualgesetzes als Inbegriff der Feindschaft am Kreuz vernichtet. Man ist versucht zu sagen: Christus hat damit in größerer Vollständigkeit erreicht, wozu auch der Kaiser mit der Vernichtung des Zentralkults und der Umwidmung der einstigen Tempelsteuer angesetzt hatte.“

 

Mir verschlägt es, wenn ich diese Zeilen wieder lese, noch heute die Sprache. Wie selbstverständlich geht der Theologe davon aus, dass das jüdische Ritualgesetz der Inbegriff der Feindschaft sei und zugunsten des christlichen Friedens vernichtet werden müsse. Ich will Sie mit weiteren Details aus den neutestamentlichen Diskussionen nicht langweilen – genüge das bisher Gesagte, um deutlich zu machen, wie auch in der Rede von der Überwindung der Feindschaft die alte Feindseligkeit gegen das jüdische Gesetz sich Bahn bricht. Alle werden eines – aber nur, wenn das jüdische Gesetz zuvor vernichtet ist? (Zweimal spricht Faust in diesem kurzen Abschnitt von Vernichtung). Wenn also alle Juden einsehen, dass sie diesem Gesetz, das sie von anderen trennt, abschwören müssen? So ist das Neue Testament und mit ihm der Epheserbrief lange gelesen worden. Das hatte Auswirkungen, massive, fleischliche Auswirkungen darauf, wie Christen mit Juden umgingen, die unter ihnen lebten. Mochte es für die Christen eine große geistige Leistung sein, den sogenannten „Sarxbereich“ des sogenannten Fleisches zu verlassen. Mochte die Anstrengung des Glaubens an einen gekreuzigten, aber gerade dadurch siegreichen Herrscher einen geistig gewaltig gekräftigten neuen Menschen hervorbringen. Mochten in diesem alle Trennungen und Zäune überwunden sein: da brauchte es doch als Gegenbild noch immer den Juden, der „im Sarxbereich“ blieb. Dessen Gesetz dem Fleisch verhaftet war – von Generation zu Generation eingeschrieben in den Körper der männlichen Gemeinschaft durch die Beschneidung „en sarki“, wie unser Autor im Predigttext ebenfalls zweifach betont.

 

In dieser Wendung ist aus dem erhabenen Zeichen des Bundes, mit dem die jüdischen Gemeinschaften ihre Zusammengehörigkeit durch Zeiten und Schicksale körperlich dokumentierten, ein peinlicher Rest geworden. Und aus den „Heiligen“, den ersten jüdischen Verkündern der Auferstehungserzählung, sind Leute geworden, die es noch nicht ganz verstanden haben, wenn sie nun weiter an den jüdischen Gepflogenheiten der „Selbstausgrenzung“ festhalten. Christus, der sich ganz geopfert hat für unsere Schuld, soll nach dem Verfasser des Epheserbriefes der Eckstein sein, auf den das ganze Gebäude der noch jungen Kirche gegründet ist. Die Judenchristen mit ihrer festgehaltenen Treue zum Gesetz sind der Stein des Anstoßes. Das rabbinische Judentum wusste womöglich von diesen Gedanken – und antwortete selbstbewusst: Alle Zäune sind niedergerissen durch „Ha Isch hase“, jenen Mann, den sie nicht beim Namen nannten? Im Gegenteil: In der Mischna, Pirke Avot 1,1, heißt es: »Seid bedächtig im Entscheiden, macht viele Schüler und macht einen Zaun (hebräisch: Sejag) um die Tora.« Was so viel heißen soll wie: macht die Regeln ruhig etwas strenger, damit bei kleinen Übertretungen das Innere der Torah noch nicht getroffen wird.

 

Ja, da treffen schon zwei sehr unterschiedliche Auffassungen zum Umgang mit der nicht immer zu Frieden und Freundlichkeit geneigten menschlichen Natur aufeinander. Die eine möchte mit einem gewaltigen Opfer ein für alle mal die Feindschaft aus der Welt schaffen. Ihr großes Verdienst ist ein gewisser abstrakter Universalismus. Gegen Hass und Hetze sind wir doch alle – die meisten von Ihnen werden sich heute in der Wahlkabine positioniert haben für eine der demokratischen Parteien, für europäischen Zusammenhalt und alles dieses. Und ist nicht etwas, wofür jemand sein Leben hingibt, mehr wert als etwas, dem man nur in guten Zeiten anhängt? Freilich, die gewaltsamen Tode für diese oder jene Herrschaft waren in ihrer erhebenden Wirkung ziemlich ausgereizt. Opfer für irgendeine Seite, die Roten oder die Blauen, die Griechen oder die Karthager, die hat man irgendwann satt. Aber wenn es an die Macht überhaupt, den Hass insgesamt, die Spaltung als solche geht: Dafür kann man schon mal Opfer bringen.

 

Die Abstraktion des Opfers bleibt jedoch auch ihr Problem: Für einen Sieg über die Feindschaft würde man notfalls sogar einen Menschen kreuzigen (lassen)? Man kreuzigte ja nicht diesen Menschen? Gewiss, er schriee vielleicht wirklich, blutete wirklich, stürbe wirklich – aber wir wären ja sicher, dass es nicht er ist, den wir da kreuzigen, nicht ein anderer Mensch? Sondern er stünde ja nur für ein Prinzip? Also könnten wir unsere Empathie getrost abschalten? Es müsste eben sein? Irgendwie müsste sie doch weggehen, besiegt werden, die Feindschaft? Und das ginge nur durch richtiges menschliches Leiden, das zugleich richtiges göttliches Leiden ist, dann aber auch irgendwie ein für allemal reinigend? Ziemlich rutschig, die Sinngebung des Kreuzestodes, wenn man sie so wendet. Aber so oder ähnlich muss das Denken wohl ausgerutscht sein, wo Christen über Jahrhunderte andere Menschen gefoltert haben, im guten Glauben, etwas Gutes zu tun. Unsere Archive erlauben ja keinen Zweifel: Karfreitag war für jüdische Gemeinden in christlichen Ländern der gefährlichste Tag im Jahr. Alles nur Ausrutscher? Oder sollte es doch mit der Lehre selbst, mit dem blutigen Opfer in ihrem Kern zu tun haben?

 

Die jüdische Auffassung geht jedenfalls einen anderen Weg als die christliche. Sie bleibt in ihren Hauptströmungen opferkritisch und glaubt an kein „ein für alle mal“. Zwar kennt sie durchaus auch blutige Opfererzählungen. Im Kiddusch haSchem, der Heiligung des göttlichen Namens, haben viele Juden unter Verfolgungsdruck den Tod einer erzwungenen Konversion vorgezogen. Aus der Zeit der Kreuzzüge haben wir erschütternde Dokumente, in denen geschildert wird, wie Mütter und Väter ihre Kinder schlachten, einander und sich selbst töten, um nicht dem marodierenden Mob in die Hände zu fallen – wohl auch, um ein Eingreifen Gottes herbeizudrängen. In diesen Dokumenten werden sie selbst im Gedenken „heilig“ genannt. Aber die Fähigkeit, durch ihr Opfer etwas wie die Feindschaft selbst zu besiegen, wird ihnen nicht zugeschrieben. Ihre Tode bleiben die konkreten Tode einzelner Menschen. Und während sich Christen lange viel darauf zugute hielten, im Opfer Jesu für alle Menschen eine Erlösung erreicht zu haben, hielten Juden sich etwas darauf zugute, das Gesetz an die Stelle des Opferns gesetzt zu haben.

 

Tatsächlich wird die Erzählung von Abraham – um deretwillen Judentum, Christentum und Islam die abrahamitischen Religionen heißen – anders als in der christlichen und muslimischen Tradition nicht als eine Geschichte von der Opferung eines Sohnes überliefert, sondern als Geschichte von der Bindung Isaaks. Es gab ja gerade keine Opferung. Die hebräische Tradition ist da genau – so dass Hermann Cohen in seinem Werk über die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums selbstbewusst schreiben konnte, dass im „Scheingebot der Opferung Isaaks … das Menschenopfer abgeschafft wurde.“ (461)

 

Während also der Epheserbrief im Geist der Paulusschule behauptet, die Feindschaft selbst sei durch das Opfer Jesu besiegt, behauptet der jüdische Philosoph, die Opferkritik der Propheten beginne bereits mit der Patriarchenerzählung von einem Opfer, das von Gott selbst verhindert wurde. Daran erinnern heißt also nicht, immer wieder Opferbereitschaft einzufordern, sondern das Opfer immer wieder zu verhindern. Der Hang zum Menschenopfer gehört nach dieser Lehre eher zur sündigen Seite der Natur, denn:

„Der Mann oder das Weib, die dem Gotte geopfert werden, sollen dadurch seinesgleichen werden. Ein solches Ziel gilt hier als Gotteslästerung, daher konnte das Menschenopfer zum Gräuel werden.“ Demgegenüber sei der einzige Zweck des Gesetzes – und in ihm des Ritualgesetzes – immer nur der Mensch. „Er soll immer mehr Mensch werden.“ So Cohen, nicht nur, aber sicher auch in Abgrenzung zum christlichen Dogma.

 

Die große Stärke dieser Auffassung liegt für mich darin, dass sie einen realistischeren Umgang damit, wie wir nun einmal sind – streitlustig, abgrenzungsbedürftig und zugleich voller Sehnsucht nach Frieden und Harmonie – pflegt. Zugleich bleibt das Göttliche und Andere, nach dem wir uns sehnen, stets anders als wir es uns konkret ausmalen.

 

Im relativen Partikularismus des jüdischen Erwählungsgedankens kann man, wenn man entsprechend gestimmt ist, den Nachteil dieser Auffassung sehen. Mit dem Zaun um die Tora sind viele Selbstausgrenzungsrituale verbunden, die jedenfalls einer fantasmatischen Einswerdung mit allen Menschen entgegensteht. Aber müssen wir denn ganz und gar eins werden, um friedlich zu leben? Ist es nicht eher schön zu sehen, wie andere auf ganz anderen gedanklichen und rituellen Wegen zu einem Gott kommen, der meinem durchaus ähnlich sieht, indem er ihnen wie mir Frieden verheißt und Liebe gebietet und Hoffnung gibt?

 

Wenn der Verfasser des Epheserbriefes, die Beschneidung „en sarki“ für unbedeutend hält, hat er offenbar eine Idee von der „Beschneidung des Herzens“ im Kopf, die es bei Juden und Judenchristen ja längst gab. Er hält es freilich noch ganz hochmütig für selbstverständlich, dass das Geistige dem verachteten Fleischlichen grundsätzlich weit überlegen sei (und dass das Gesetz als dem Sarxbereich zugehörig Feindschaft stifte).

 

Das sehen gerade führende Geister unserer Zeit anders. Sie erinnern daran, dass alle unsere kulturellen Erinnerungen eine leibliche Seite haben. „Kein Archiv ohne die eingerichtete Verräumlichung eines Ortes des Eindrucks. Draußen, direkt auf irgendeinem tatsächlichen oder virtuellen Träger.“ So schreibt Jacques Derrida im sogenannten Waschzettel zu seinem Buch „Dem Archiv verschrieben“ (frz. Mal d’archive). Und er fährt fort: „Was wird dann aber aus dem Archiv, wenn es sich direkt auf den sogenannten eigenen Körper einschreibt? Zum Beispiel gemäß einer Beschneidung, in ihrer Buchstäblichkeit oder in ihren Figuren?“

 

Wie sich die Beschneidung in ihrer Buchstäblichkeit oder als sinnbildliche Beschneidung der Herzen auf jüdische Menschen auswirkt – das kann und will ich nicht beurteilen, da kann ich nur als stille Teilnehmerin zuhören und die Vielfalt der Auskünfte anerkennen.

 

Wenn wir aber heute, da die Kirchen alt und vielfältig geworden sind, da wir uns beim Blick in unsere Archive vielfach schuldig bekennen müssen, schuldig geworden aus geistigem Hochmut an den Leibern und Seelen vieler Menschen, die durch unseren Hochmut gelitten haben – dann werden wir kaum jubeln können, dass die Feindschaft besiegt sei.

 

Es wäre denn auf Hoffnung: weil wir sie nämlich nicht mehr denken wollen. Weil niemand mehr für uns und unsere Feindseligkeit gegen dies und das sterben soll. Weil wir niemanden mehr quälen wollen, um dazu zu gehören. Weil wir das Kreuzigen möglichst unterlassen wollen. Und weil wir – alle auf je eigene Weise – um den Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bitten mögen.

 

 

 

 

 

Das Gesetz der Feindschaft töten? – Gedanken zu Opfer und Herrschaft Christi
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