Blog-Version eines Vortrags, den ich am 16.11.2023 im Rahmen der Ringvorlesung über Messianismus in der Mendelssohn Remise gehalten habe. Ich bedanke mich bei den Professorinnen Irmela von der Lühe und Liliana Ruth Feierstein für die generöse Einladung, bei Valentina Leonhard für die umsichtige Organisation und bei allen Teilnehmenden für die lebhafte Diskussion. Hier also der Text, der aus gegebenem Anlass den 126. Psalm als Motto hat.

Vorrede 

Als ich den Titel zu meinem Vortrag hier entwarf, war die Welt zwar angeblich auch schon „aus den Fugen“ – in denen sie in Wahrheit niemals gewesen sein wird. Gefühlt ist seit dem 7. Oktober 2023 zu allen Übeln der Welt eines dazu gekommen, das die christlich-jüdischen Bedingungen, unter denen wir hier über Messianismus sprechen, stark affiziert. Wieder ist die Frage etwas dringlicher geworden: Ist das Diesseits zu retten, und welche Rolle spielen dabei die rivalisierenden symbolischen Ordnungen, die sich allzu oft vor allem selbst retten wollen, notfalls auf Kosten der Welt?

Vor zwei Wochen hat uns Frank Crüsemann eindrucksvoll eingeführt in die Sehnsucht nach einer neuen, einer messianischen Welt. Sie weht uns immer wieder an aus den Texten der Hebräischen Bibel. Crüsemann hat – dankenswerterweise – keinen Hehl aus seiner eigenen Besorgnis wegen des gegenwärtigen Zustands der Welt gemacht. Und er hat uns jene berühmte Vision des Propheten Jesaja von vegetarischen Löwen und giftlosen Schlangen eindringlich vor Augen geführt, die sicher zu den größten und schönsten und knappst skizzierten Wunschträumen der Menschheit gehört. Ich will mit Ihnen heute der Frage nachgehen, was in 2000 Jahren Christentum aus der alten biblischen Sehnsucht geworden ist. Und Sie wollen mir bitte erlauben, meine Gedanken zum gegenwärtigen Zustand der Welt auch nicht gänzlich hinter der wissenschaftlichen Sprechweise zu verbergen.

Das Zitat in meinem Titel ist ja fast schon ein Bekenntnis. Es stammt aus dem Werk Die Blutsäule von Soma Morgenstern. Dieses Buch schrieb Soma Morgenstern nach einem Besuch im neugegründeten Staat Israel. Damals lebte er in New York. Nach der Fertigstellung seiner Romantrilogie hatte er von den Verbrechen der Nazis erfahren und war für eine Zeit verstummt. Unter anderem eine Begegnung mit Abraham Heschel hat dem Romancier in Israel zu einer neuen Sprache verholfen. Nun schrieb er einen Epilog zur unbefangen erzählten Trilogie. Dieser Text schildert ein fiktives Gericht, der Ton ist hier regelrecht mythisch, und eine Figur mit dem biblischen Namen Nehemia sagt gegen Ende: [2]

 

  • „Wir wissen: Das Diesseits wird frei werden vom Übel. Und wenn das nicht wahr ist, wollen wir weiter nichts wissen, denn es gäbe sonst nichts, was des Wissens noch wert wäre.“[1]

Dazu: „‚Atchalta d’Ge’ula‘, sprach Nehemia wie ein Träumender mit leiser Stimme die Worte dem Boten nach“ (S. 147), dazu Psalm 126

(1) WENN G’TT DIE GEFANGENEN ZIONS ERLÖSEN WIRD, WERDEN WIR SEIN WIE DIE TRÄUMENDEN. (2) DANN WIRD UNSER MUND VOLL LACHENS UND UNSERE ZUNGE VOLL RÜHMENS SEIN. DA WIRD MAN SAGEN UNTER DEN VÖLKERN, G’TT HAT GROßES AN IHNEN GETAN! (3) G’TT HAT GROßES AN UNS GETAN, DES SIND WIR FRÖHLLICH. (4) G’TT, BRINGE ZURÜCK UNSERE GEFANGENEN WIE DU DIE BÄCHE ZURÜCKBRINGST IM SÜDLAND. (5) DIE MIT TRÄNEN SÄEN, WERDEN MIT FREUDEN ERNTEN. (6) SIE GEHEN HIN UND WEINEN UND TRAGEN GUTEN SAMEN UND KOMMEN MIT FREUDEN UND BRINGEN IHRE GABEN.

 

Soma Morgensterns dramatisches Gericht über die Verbrechen der nationalsozialistischen Besatzungstruppen in seiner ukrainischen Heimatstadt Tarnopol endet mit der Hoffnung auf Erlösung. Deren Beginn, Atchalta deGeula, sah Morgenstern tatsächlich in der Gründung des Staates Israel. Indem er aber aus der Shoah die „Blutsäule“ (Feuersäule, Wolkensäule), und aus den Ermordeten wirklich einen Holocaust, ein Ganzopfer, ein Opfer für die Erlösung aller anderen, macht, steht er mit einem Bein schon im Lager derjenigen, die diesem sinnlosen Morden einen Sinn geben. Mit dem anderen Bein steht er freilich in der jüdischen, genauer ihrer prophetischen Tradition, die es von Beginn an verstanden hat, den politischen Katastrophen des Volkes einen theologischen Sinn abzunötigen. Die Arbeitsteilung war dann so etwa: Die Könige und ihre Politiker treiben das Volk in die Katastrophe, die Propheten rütteln es durch sittliche Ermahnungen zu Gottesfurcht und irdischer Moral auf, und die Messiasse repräsentieren die Hoffnung, dass das Gute sich auch lohne und auf die Dauer zur Heilung der Menschen und ihrer Gesellschaften führe, ob nun dieses eine Volk oder gleich die gesamte Menschheit. Tatsächlich werden Reparaturen an der ganzen Welt, der Menschheit und der allzu gewaltdurchtränkten Natur ersehnt.

 

Nehemia ist biblisch historisch eine interessante Zwischenfigur, die eher für die politische Wiederherstellung des Volkes steht. Ob der biblische Nehemia schon messianisch gedacht war, kann man bezweifeln, den Messiastitel trägt zu seiner Zeit ja eher der fremde Herrscher, Kyros, der den exilierten erlaubt, nach Zion zurück zu kehren – und Nehemia ist in diesem Kontext die israelitische Führungsfigur. Aber welche Rolle spielt, von Morgensterns Zeit, gar von heute aus betrachtet, das Christentum?

 

Diese Sehnsucht lebt im Christentum weiter. Der Apostel Paulus, zweifelsfrei die entscheidende Gründungsfigur der christlichen, mindestens der heidenchristlichen Kirchen, drückt die Sehnsucht nach einer friedlicheren Natur freilich eher negativ und deutlich abstrakter als Jesaja aus, wenn er Röm 8, 19-22 schreibt:

„Denn die ganze Schöpfung sehnt sich und wartet, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja der Vergänglichkeit unterworfen – nicht nach ihrem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat – jedoch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick gemeinsam seufzt und in Wehen liegt“.

Die Wehen des Messianischen Zeitalters, eigenartige Interpretation von Lev 12,1-7, 7 Tage der Unreinheit, 70 Jahre etc.

Schauen wir uns das genauer an:

 

1.    Ein Messias, der schon da war und noch kommt?

Bekanntlich behauptet das Neue Testament, dass Jesus von Nazareth der von den Juden seiner Zeit herbeigesehnte Gesalbte, der Messias, gewesen sei. Allein das Wort Xristos (griechisch für Meschiach, gesalbt) kommt in dem Zusammenhang im NT 530 mal vor. Inwiefern er das selbst geglaubt hat, ist umstritten, das sieht je nach Quelle etwas anders aus. Unumstritten ist: In seinen letzten 3-4 Lebensjahren erregte Jesus aus Nazareth als wandernder Weisheitslehrer mit ergebenem Adorationskollektiv einiges Aufsehen in der damaligen römischen Provinz Syrien im Unterbezirk Palästina. Sein gewaltsamer Tod am Kreuz brachte seine Jünger nicht davon ab, zu glauben, dass er der Messias gewesen sei, im Gegenteil. Freilich, man musste am Konzept des Messias etwas arbeiten, um es auf diesen Jesus anzuwenden.

 

Das geschah wiederum arbeitsteilig: [6]

  • Die Evangelien und parallele Texte übernahmen sicher schon vor ihrer Verschriftlichung (zwischen 50 und100) den volkstümlichen Teil. Sie erzählten Geschichten über Jesus und seinen Wandel, seine Lehren, sein Leiden, sein Sterben und seine Auferstehung. Dabei verknüpften sie alles sorgfältig so mit der Hebräischen Bibel, dass alle möglichen Prophezeiungen – etwa das Reiten des Erlösers auf einem Esel bei Secharja, das Leiden des Gottesknechtes bei Jesaja – durch den Bericht von Jesus erfüllt wurden. Matthäus gibt sich außerdem alle Mühe, Jesus einen ordentlichen königlichen Stammbaum zu verpassen.
                • Den kann man glauben, dann glaubt man nicht an die Jungfrauengeburt, weil dann Josef der leibliche Vater Jesu sein muss, oder man glaubt an die Jungfrauengeburt, dann nimmt man eben diesen Stammbaum nicht so ernst bzw. redet sich – für die Spätantike durchaus plausibler als für uns Biologisten – auf „juristische Vaterschaft“ heraus; manche Gelehrte sagen wiederum, Lukas habe deswegen einen so anderen Stammbaum als Matthäus, weil er den Stammbaum Marias, der Blutsverwandten, verfolge.
  • [7] Den gelehrten Teil der Umdeutung eines Gekreuzigten in einen Heilsbringer übernahm Paulus. In ganzen sieben Briefen entfaltete dieser gewiefte Rhetor und Philosoph eine Lehre, an der sich Theolog:innen und Philosoph:innen bis heute die Zähne ausbeißen. Und dabei kann man mit allem, was jemals über Paulus geschrieben worden ist, Bibliotheken füllen.

Wo also anfangen, wie ihn hier handlich genug und trotzdem differenziert genug vorstellen? Wie gar noch die etwas komplexe Frage erklären, ob er für einen erwachsen gewordenen Messianismus zu retten sei? Auf den erwachsen gewordenen Messianismus komme ich später, ebenso auf die Frage nach dem Retten. Erst einmal will ich zumindest in groben Zügen nachvollziehen, was es mit diesen 7 echten Paulusbriefen und den 6 weiteren im NT unter seinem Namen überlieferten Briefen aus der Paulusschule in Sachen Messianismus auf sich hat. Für Paulus treten die in den Evangelien berichteten inhaltlichen Lehren und volksmächtigen Wundertaten Jesu fast ganz zurück hinter das später von den christlichen Theologen sogenannte Heilsgeschehen im sogenannten Christusereignis:

„Die Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben als Sühne hingestellt in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher, in der Zeit seiner Geduld, begangen wurden, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, dass er selbst gerecht ist und den gerecht macht, der aus dem Glauben an Jesus lebt.“ (Röm 3, 24-26).

Jüdischen Leser:innen ist das fremd geblieben. Aus unterschiedlichen Gründen. Sie erinnern sich vielleicht, dass Frank Crüsemann eine kleine Kritik an Gershom Scholem formuliert hat: dieser habe das Christentum zu innerlich genommen.

(Gershom Scholem, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, in Judaica 1, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 6. Aufl. 1997, 7-74, 37).

Darin sah Scholem in der Tat einen Hauptunterschied zwischen jüdischer und christlicher Messiaserwartung – wogegen Crüsemann selbst die christlichen Lehren politischer interpretiert. Das lohnt allemal eine eigene Betrachtung – hier bleiben wir bei den großen Linien und haben schon die Frage: Wie nicht denken, dass das Christentum eine scharfe Verinnerlichung gebracht habe, wenn man Paulus liest? Ist hier nicht wirklich alles davon abhängig, was ein Mensch im Innersten glaubt? Gott macht den gerecht, der aus dem Glauben an Jesus lebt? Was soll das denn heißen? Geht es da nicht nur noch um irgendeinen Jenseitsbezug?

Tatsächlich kann man sagen:

Unter der Hand des vierten Evangelisten, Johannes, „vergeistigt“ sich die noch recht bodenständige Aussage Jesu „das Reich Gottes ist mitten unter euch“ aus dem Lukasevangelium (Luk 17, 20f) zu dem berühmten „mein Reich/Königtum ist nicht von dieser Welt“ des Johannesevangeliums (Joh 18,36). Unter den Händen des Paulus und seiner Schüler verpsychologisiert es sich zu einer eigenartigen Konstruktion, die noch in diversen völlig säkularisierten Bekenntnisgepflogenheiten unserer Tage jede Menge Spuren hinterlassen hat. Und zwar in der christlichen wie auch in der jüdischen Welt.

Wohlgemut behauptet Paulus im 2. Korintherbrief:

  • Kor 10, 3-5: Denn obwohl wir schwache Menschen sind, kämpfen wir doch nicht mit schwachen menschlichen Kräften. Denn die Waffen, mit denen wir kämpfen, sind nicht schwach wie Menschenwaffen, sondern mächtig durch die Kraft Gottes, um Befestigungen zu zerstören. Wir zerstören nämlich damit Gedankengebäude und alles Hohe, das sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt, und nehmen alles Denken gefangen und führen es zum Gehorsam gegen Christus.

Die Kraft Gottes, so darf man mitlesen, wird also, wenn sie Gedankengebäude zerstören kann, selbst eine geistige Kraft eher sein als irgendetwas aus Metall. Und sie erfüllt denjenigen, der sich mit geistigen Dingen beschäftigt? Wenn Sie genauer hinsehen, finden Sie es auch in den Diskussionen unseres Diesseits überall. Denken Sie nur an NLP und alle möglichen Versprechen, dass Sie mit dem richtigen „Mind-Set“ Ihre Ziele erreichen werden etc.

Natürlich kann man etwa Freuds „Fortschritt in der Geistigkeit“, den er in seinen kulturtheoretischen Schriften beschreibt, nicht 1:1 auf irgendeinen säkularisierten christlichen Geist zurückführen (Freud würde uns eine scharfe Unterscheidung von Denken und Glauben ins Gesicht pusten). Und auch das zur Zeit in allen möglichen Diskursen unendlich repetierte „bekenne dich zu“, „distanziere dich von“, geht nicht restlos auf im Erbe einer Paulinischen „Allein durch den Glauben“-Lehre. Aber es hat schon mehr Elemente von Glaubensbekenntnis als von Gedankenarbeit an sich, und manchmal wünsche ich mir wirklich, die Leute, die so sprechen und offenbar zu glauben scheinen, es wäre etwas gewonnen, wenn jemand gehorsam heraustrompetet „ich bekenne mich zu“, „ich distanziere mich von“, kennten die paulinische Tradition, in der ich ein solches Gebaren verorten muss, ein wenig besser. In vielen Fällen mehr oder weniger säkularer Geistigkeit und Bekenntniskultur kann man aber schon sagen, dass da eine gewisse Konzentration auf Innerliches vorliegt.

Gehen wir dem weiter nach. Wie ist es überhaupt zu dem gekommen, was Scholem die „Verinnerlichung“ des Messianismus genannt hat? Wie ferner zu dieser merkwürdigen Figur eines Messias, der schon da war, aber noch kommt?

2.1 Eine Situation nach der Katastrophe als Ausgangspunkt

Das Christentum und sein Geschwister, das rabbinische Judentum, sind in einer Zeit entstanden, in der auf lange Sicht nicht an eine politische Erneuerung gedacht werden konnte. Das Diesseits frei von Übel und Fremdherrschaft? Anfang der Erlösung im eigenen Staat? Nichts davon. Der Gegner für die allesamt gescheiterten jüdischen Aufstände gegen die römische Vorherrschaft war einfach zu mächtig. Das war zur Zeit des Wirkens Jesu und auch zur Zeit der Entstehung der Paulusbriefe noch nicht bei allen Bewohnern Palästinas angekommen. Aber seit der Niederlage im Jahr 70 war es unübersehbar: Jerusalem lag in Trümmern, der Tempel war zerstört, alle politisch-messianischen Bewegungen vorläufig gescheitert. Unter den Erben der prophetischen Tradition (die ich vorhin beschrieben habe als diejenigen, die die jeweilige Lage moralisch und theologisch deuteten), war die Frage nicht nur, wie man unter diesen Umständen die Tradition verstehen wollte, sollte oder konnte – es war überhaupt die Frage: welche Tradition? (Es gab noch keinen festen Kanon heiliger Schriften jenseits der Tora). Und worauf wollte man hoffen?

In der historischen Forschung hat sich da in den letzten Jahrzehnten einiges getan. Das hängt unmittelbar mit der abnehmenden Akzeptanz eines mehr oder weniger verfugten christlichen Weltbildes zusammen – und betrifft unsere Frage nach dem Messias. Solange die christliche Geschichtsauslegung dominierte, galt auch ein Paradigma des Fortschritts in der Geistigkeit. Die Kirchengeschichte wurde also so beschrieben, dass natürlich das Christentum mit seiner Verinnerlichung der Erlösungshoffnung das ältere Judentum überbot und ablöste. Diejenigen, die nicht mitgehen wollten, blieben als ungläubiger uneinsichtiger Rest irgendwie übrig.

Das geht bei allen Fortschrittserzählungen soDas Christentum kam, das Judentum blieb als Rest, der Islam kam, das Christentum blieb als Rest, die Reformation kam, die katholische Kirche blieb als Rest, die Aufklärung kam, usw.

Die antijüdische Polemik fängt schon mit dem Neuen Testament an. Spätestens mit den immer „Iudaioi“ genannten Gegnern Jesu im Johannesevangelium (um 100 p.C.) ist da ein Signal gesetzt. Dabei waren die Konflikte wohl zuerst die zwischen jüdischen und paganen Christusgläubigen. Die – bisher noch gar nicht erwähnte – zweite große Schrift des Lukas, die Apostelgeschichte, beschreibt recht umfassend, wie sich die Bewegung verbreitete und wie dabei der Judenmissionar Petrus mit dem Völkerapostel Paulus aneinandergeriet. Während sie sich einig waren, dass Jesus der Messias war, dass er gekreuzigt und auferstanden war „zur Erlösung von unseren Sünden“, und dass er wiederkommen werde am Ende der Tage zum jüngsten Gericht, waren sie sich nicht einig über die Rolle der Zeremonialgesetze in der neuen Geistigkeit. Paulus, dem sie als bloße Äußerlichkeit galten, wollte sie „optional“ stellen, Petrus hielt sie für verbindlich. Es gab im Judentum jener Zeit innerhalb der christlichen Bewegung und außerhalb ihrer eine unübersichtliche Gemengelage verschiedener Lehren. Manche glaubten an Jesu Messianität, aber nicht an die Logostheologie, andere an die Öffnung der jüdischen Tradition für die Noachiden, aber nicht an Jesus, usw. In solchen Zeiten helfen nur Polarisierung und Spaltung dem urmenschlichen Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Orientierung.

Dies wurde mit zunehmender Orthodoxisierung der verschiedenen Gruppen und der Einigung auf verschiedene Kanonisierungen der Traditionsbestände erreicht. Wie gemischt alles bis dahin war, wird erst allmählich in der Forschung gesehen. Bis vor ca. 40 Jahren wurde gelehrt, dass das Christentum sich sozusagen aus dem Judentum herausentwickelt habe, während das Judentum grosso modo blieb, was es war (wenn auch eingeteilt in Frühjudentum und Spätjudentum etc.). In den letzten Jahrzehnten wird demgegenüber betont, dass sowohl das rabbinische Judentum als auch das jüdische und heidnische Christentum sich aus den Trümmern der israelitischen Tradition neu und praktisch gleichzeitig und in ständiger Abgrenzung voneinander erschufen. Israel Yuval erregte sogar Aufsehen mit der Behauptung, dass das Christentum die Mutter und das Judentum die Tochter in dieser Beziehung sei. So weit möchte ich nicht gehen, halte aber viele der Überlegungen, die Daniel Boyarin in seinem Buch „Abgrenzungen“ anstellt, für sehr plausibel. Ich lasse hier wieder vieles beiseite – genüge die vorläufige Feststellung, dass erst im dritten Jahrhundert die Aufteilung einigermaßen übersichtlich war. Und dass es dann zu einer ganz eigentümlichen Karriere gerade der verinnerlichenden Auffassung des Messianismus kam.

2.2           Gesetz und Glaube?

Mit dem Gedanken, dass es vor allem auf den Glauben und die richtigen Gedanken ankomme, hatte Paulus Jesus ins Zentrum einer neuen Art von Messianismus gestellt: Ein Messias war nun nicht mehr nur ein starker Held, der gegen alle Wahrscheinlichkeit einem überlegenen Gegner den Garaus machte und ein geknechtetes Volk aus der Gefangenschaft führte. Er musste auch nicht unbedingt vor den Augen der Welt aus der Leidgestalt in eine Lichtgestalt verwandelt werden. Es war dies vielmehr ein für allemal geschehen, wenn auch eingesponnen in eine merkwürdige Dialektik von Geheimnis und Offenbarung. Wenn man das nur glaubte, wenn man sich zu diesem speziellen Messias, diesem Jesus, dessen Name Christus, also Messias war, bekannte, gewann man durch dieses Bekenntnis und den Glauben allein Anteil an göttlichen Kräften. Damit konnte man nun die Gegner geistig gefangennehmen. So die Idee, die sich auch mit dem Imperialwerden der Kirche nach der konstantinischen Wende auf verblüffend effiziente Weise und nachhaltig verwirklichte.

Wieder muss ich vieles beiseitelassen, füllt doch auch die Literatur über Gesetz und Glaube bei Paulus Bibliotheken. Aber ein Weniges will ich sagen: Wenn Jesus die Universallösung war, wirklich für alles, veränderte das den Blick auf alles Frühere. Paulus musste nicht nur klarstellen, dass jetzt alles anders war – obwohl sichtbarlich sich nichts zum Besseren verändert hatte – er musste auch klarstellen, warum das so war und was mit den älteren oder zeitgenössischen anderen Erlösungshoffnungen und den sie begleitenden Strategien zur Herbeiführung der Erlösung falsch war. Die übliche christliche Lesart der Paulusbriefe lautete: Früher haben die Juden gehofft, durch pünktliche Erfüllung des Gesetzes Punkte bei ihrem gestrengen Gott zu sammeln. Das hat aber wegen der Unerfüllbarkeit der gesetzlichen Forderungen nicht geklappt, und darum sind sie alle Sünder geblieben. Das hat Gott leidgetan, darum schickte er Jesus, der Gott generell eher als liebevoll schilderte und Glaube-Liebe-Hoffnung, aber keineswegs Gesetzesgehorsam um jeden Preis predigte. Mit seinem Kreuzestod sowie nachfolgender Auferstehung hat Jesus auch den Tod besiegt, und darum sind die Christen schon erlöst, auch wenn die Welt nicht besser geworden ist und die Christusgläubigen keineswegs weniger endgültig sterben als andere. Sie werden endgültig erlöst sein, wenn Christus wiederkommt, bis dahin sind sie eben innerlich erlöst.

Gerade deswegen bemerkte Nietzsche: „Erlöster müssten mir die Christen aussehen“. Denn diese innerliche Verwandlung müsste sich doch irgendwo zeigen.

 

Die innere Verwandlung zeigte sich auch in der äußeren Welt – aber anders als proklamiert. Und hier kommen wir mit der faulen Ausrede, die Idee sei gut, nur an der Umsetzung habe es in den vielen Jahrhunderten Kirchengeschichte gehapert, nicht an Land. Das Problem liegt schon in der gedanklichen Wurzel: Damit das Christusereignis etwas und sehr gut sei, muss nach der Logik dieser Welt etwas anderes schlecht sein. Da lag „das Judentum“ nahe. Die Kette der antijüdischen Projektionen ist im Laufe der Jahrhunderte gut gefügt worden. Das Verlangen, ganz rein vor einem herrischen Gott dazustehen, das Christen zu haben glaubten – es wurde auf die Juden projiziert. Man dachte, sie hätten dieses Verlangen auch und wählten nur den falschen Weg, um den gewünschten Zustand zu erreichen. Man glaubte, die Juden hätten mit dem Gesetz die Hoffnung verbunden, alles Elend der Welt und ihre je eigenen Probleme oder Sünden zu überwinden. Man dachte, so wie man Jesus als Universallösung für alle Probleme predigte, würden die Juden ihr Gesetz als Universallösung für alle Probleme predigen. Und bereits Paulus gibt sich gewaltige Mühe, zu zeigen, dass das Gesetz als eine solche Generallösung nicht funktioniert. Darauf gründet sich eine gute Portion christlicher Überheblichkeit. Die Juden bleiben demnach mit ihrem Gesetzesgehorsam im Reich von Leiblichkeit und Engstirnigkeit, während die Christen mit ihrem Glaubensgehorsam das Reich der Freiheit immer schon betreten haben. Dabei zeigt die oberflächlichste Beobachtung des wirklichen Verhaltens von Menschen schon an, dass die angeblich so pedantisch gesetzesversessenen Juden über eine hohe Kultur der Umgehung so mancher Regel verfügen, während insbesondere wir Protestanten, die ach so vieles aus ach so großer Freiheit tun – gern von peinlichst verklemmter Gesetzlichkeit bestimmt zu werden pflegen.

Kritik an dieser Denkfigur hat in etwas größerem Stil leider erst nach 1945 Eingang in die christliche Paulusforschung gefunden. In meiner (schon etwas älteren) Dissertation habe ich einigen wenigen christlichen Autoren eine Bühne bereitet, die sich immerhin vorstellen konnten, dass diese ganze antijüdische Polarisierung „Gesetz gegen Glauben“ ein Missverständnis oder eben eine Projektion sein könnte.

Zu meinen Lieblingen in dieser Frage gehört Ed Parish Sanders, der 1977 in einer großen Untersuchung der „verschiedenen Religionsstrukturen“ von Paulinismus und palästinischem Judentum das Motto „Erst die Lösung, dann das Problem“ über die Gesetzestheologie des Paulus stellte:

Da sie einmal wenigstens innerlich durch die göttliche Heilstat von einem allgemeinen Problem ein für allemal erlöst waren, mussten die Christen zuvor ein Problem gehabt haben, das nun sorgfältig ausgestaltet und zu einem allgemein menschlichen Problem erklärt wurde – mit einem Paulus, einem Messiaserklärer, der sein Ich als Beispiel für alle setzt:

3.     Neues Problem – neue Zeit

Röm 7, 9-25 lesen wir:

9 Ich aber lebte weiland ohne Gesetz; da aber das Gebot kam, ward die Sünde wieder lebendig,
 10 ich aber starb; und es fand sich, daß das Gebot mir zum Tode gereichte, das mir doch zum Leben gegeben war.
 11 Denn die Sünde nahm Ursache am Gebot und betrog mich und tötete mich durch dasselbe Gebot.
 12 Das Gesetz ist ja heilig, und das Gebot ist heilig, recht und gut.
 13 Ist denn, das da gut ist, mir zum Tod geworden? Das sei ferne! Aber die Sünde, auf daß sie erscheine, wie sie Sünde ist, hat sie mir durch das Gute den Tod gewirkt, auf daß die Sünde würde überaus sündig durchs Gebot.
 14 Denn wir wissen, daß das Gesetz geistlich ist; ich bin aber fleischlich, unter die Sünde verkauft.
 15 Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern, was ich hasse, das tue ich.
 16 So ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, daß das Gesetz gut sei.
 17 So tue ich nun dasselbe nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnt.
 18 Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht.
 19 Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.
 20 So ich aber tue, was ich nicht will, so tue ich dasselbe nicht; sondern die Sünde, die in mir wohnt.
 21 So finde ich mir nun ein Gesetz, der ich will das Gute tun, daß mir das Böse anhangt.
 22 Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen.
 23 Ich sehe aber ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern.
 24 Ich elender Mensch! wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?
 25 Ich danke Gott durch Jesum Christum, unserm HERRN. So diene ich nun mit dem Gemüte dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleische dem Gesetz der Sünde.

Spätestens mit diesem Text ist der Apostelstreit um die pragmatische Frage, ob auch Heidenchristen die ganzen 613 Mitzvot einhalten müssen, weit weit über die Grenzen solcher konkret diesseitigen Fragen hinausgewachsen. Die konkrete Frage wurde nach einer seit dem 18. Jahrhundert nachlesbaren Auffassung im Apostelkonzil so gelöst, dass die Heidenchristen die 7 noachidischen Regeln zu befolgen hatten und die Judenchristen alle 613 Mitzvot; und von keinem Juden sei hochmütig zu verlangen, dass er aufhöre, seine Gesetze zu befolgen.

Auf subtile Weise gerät ins Rutschen, was erst in der Aufklärung als der gute Geist der Gesetze in der protestantischen Welt wieder hergestellt wird.

Paulus geht es an der berühmten Stelle aber nicht um Gesetze als geistige (!) Mittel zur Lösung praktischer menschlicher Konflikte. Ich sage, er verpsychologisiert das Gesetz, denn er geht hier auf ein wohl allgemeinmenschliches Dilemma los. Salopp ausgedrückt: das Verbotene ist besonders reizvoll. Wenn man trotzdem versucht, sich halbwegs ordentlich zu verhalten, wird man oft vom (heute sogenannten) inneren Schweinehund angefallen und überwunden. Und der ist grob gesprochen in der Leiblichkeit anzusiedeln, der Wille zum gesetzeskonformen Handeln hingegen im Geistigen. Geist und Leib werden unversöhnlich gespalten, entsprechend die Haltung zum Gesetz, verstanden als Sittengesetz. Aber dann kommt Jesus und macht alles gut, indem er nicht nur den fleischlichen Menschen in seine Schranken weist (das tun so ziemlich alle religiösen und philosophischen Lehren), sondern – Neuheit der Neuheiten – auch das Gesetz selbst. Dieses sei „zwischeneingekommen“ in die ohne seine Verurteilungen unschuldige Beziehung zwischen Gott und Mensch. Und so gerät das Gesetz überhaupt, vor allem aber die Tora seit Paulus nun in allen einschlägigen Geist-Fleisch-Dichotomien auf die Fleischseite! Kapitel 8 fährt fort:

„So gibt es nun kein Verdammungsurteil für die, die in Christus sind. Denn das Gesetz des Geistes, der in Christus Jesus lebendig macht, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. Denn was dem Gesetz unmöglich war, weil es sich angesichts unseres selbstsüchtigen Willens als zu schwach erwies, das hat Gott getan. Er sandte zur Sühne für die Sünde seinen Sohn in der Gestalt von uns sündigen Menschen und vollstreckte an seinem menschlichen Leib das Urteil über die Sünde, damit wir nicht dem menschlichen Begehren folgen, sondern dem Geist Gottes.“

Wieder muss ich Bibliotheken ausblenden, um durch zu kommen. Aber tatsächlich ist diese spätantike Seelenschau mit ihrer Wendung gegen das Prinzip des Verurteilens, mit ihrem Auftrotzen gegen das Gesetz der Sünde und des Todes, mit ihrer Gleichschaltung von Gesetz und Urteil, bis heute faszinierend geblieben. Man hat sie christlicherseits jahrhundertelang enggeführt gegen die der stupiden Gesetzesfrömmigkeit und damit der Fleischlichkeit bezichtigten Juden, man hat sie protestantischerseits sodann enggeführt gegen die vermeintliche Werkgerechtigkeit und Sinnlichkeit der Katholiken. Erst als christliche Theolog:innen im Entsetzen über die Shoah endlich versuchten, die eigene Theologie von Judenfeindschaft zu befreien, haben einige sich auch an diesen Topos herangetraut und sind ein gutes Stück weit gekommen. Aber dann hat in den letzten Jahrzehnten die philosophische Paulusrezeption wieder den darin vermeintlich enthaltenen Kritikpunkt an jüdischer Gesetzlichkeit hervorgekramt, als wäre dessen systemischer Antijudaismus nie kritisiert worden.

Ich komme auf die Entdeckungen, die die postmodernen Paulusleser dennoch gemacht haben, ganz am Ende zurück. Dieses ist auch bald erreicht, aber eine Sache will ich noch ansprechen.

4.    Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig?

Nietzsches Kritik am Christentum ist bekannt. Ein Zitat habe ich schon gebracht – sie müssten ihm erlöster aussehen, die Christen, Sie erinnern sich. In seiner Kritik am Christentum spielen das Gesetz und seine Kritik zwar eine Rolle, aber Nietzsche sieht im Grunde die gesamte jüdische und christliche Moral unter der Überschrift: „Wie kann der schwächere Stamm dem stärkeren doch Gesetze diktieren?“ Und die ganze Klage des Paulus über den inneren Schweinehund fällt ihm unter das Verdict:„Ein sehr hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hierher: der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Teil von sich als Gott an und hat dazu nötig, den übrigen Teil zu diabolisieren.“[2] (Menschliches, allzu Menschliches, 1,66 u. 78). Für Nietzsche fallen das Gesetz und die prophetische Sehnsucht nach veganen Löwen eher noch mit in das Gebiet einer Sklavenmoral, die sich nicht am antiken quod licet Jovi non licet bovi orientiert, sondern für die Schwachen dasselbe will wie für die Starken. Und so missfallen ihm an Paulus vor allem die Passagen, die wirklich behaupten, Schwäche sei eigentlich Stärke.

Eine von diesen wird für heute mein letztes Pauluszitat. Er schreibt 2. Kor 12:

„5b: für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. 6 Und wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich nicht töricht; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört.7Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. 8Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. 9Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne. 10Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“

An dieser Stelle scheinen die Lehren Jesu und die des Paulus wirklich wieder zusammen zu kommen: Nicht in der äußerlich-weltlichen Stärke, sondern in der inneren Festigkeit des eigenen Glaubens solle man gegründet sein. Dann könne man, salopp gesagt, Schwäche in Stärke verwandeln. Das überzeugte die damals mächtigen Römer oftmals tatsächlich. Ob der Jurist Tertullian, der christliche Gefangene verhörte und so beeindruckt war von ihrer alle Pein überwindenden Moral, dass er sich schließlich taufen ließ und wichtiger Kirchenvater wurde, oder Kaiser Konstantin, der sich in der Folge einer Traumvision vom Kreuz und dem Satz in hoc signo vinces  zu der nach ihm benannten Wende in der Religionspolitik des Reiches bestimmen ließ – bedeutende Menschen folgten dem Beispiel des Paulus, der sich bekanntlich in einer Vision des leidenden Christus vom Christenverfolger zum Völkerapostel bekehrt hatte.

Diese Skulptur von Bruce Denny, aufgestellt am Londoner Soho Square, soll Paulus zeigen, wie er – geistig getroffen – vom Pferd fällt. 

 

Freilich, sobald sich eine weltliche Macht mit so einer Lehre verbindet, nimmt die Paradoxie eine weitere Umdrehung. Mit Recht hielten die in allen christlichen und antichristlichen Quellen bewanderten jüdischen Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts den imperialen christlichen Mehrheitsmenschen immer wieder vor: Sie würden die Kraft der Schwäche zwar predigen, in Wahrheit aber eine Politik und eine Philosophie der Macht betreiben. In deren Angesicht konnten tatsächlich nur die jüdischen Minderheitler überhaupt bestehen, die ihre objektive „bürgerliche“ Schwäche auf irgendeine intelligente Weise in Stärke verwandeln konnten. (Besonders brillant vermochte dies Franz Rosenzweig, dessen virtuoses Spiel auf der Klaviatur der Umdrehungen erst allmählich verstanden wird; aber den Vortrag über ihn lasse ich hier aus).

Die Zeiten haben sich gewandelt. Auch der stolzeste Christ muss die Kulturtechnik des „Sich in die Tasche Lügens“ schon ziemlich gut beherrschen, wenn er noch selbst glauben will, mit seiner Kirche „auf der Siegerstraße“ zu sein wie einst der römische Kaiser Constantin. Heute sind sie zwar noch da, die Kirchenhierarchien und die großen Immobilien; in manchen Gegenden der Welt wachsen die christlichen Kirchen sogar – aber gerade in der westlichen Welt, in der sie einst fraglos mächtig waren, gerade in unseren Welten, in denen kaum ein Buchstabe geschrieben wurde, der nicht irgendwie mit kirchlichen Lehren imprägniert war, gerade hier, wo noch heute eine Wissenschaft wie die Psychologie als nicht in allen Stücken intelligenteres Säkularisat ehedem christlicher Seelenlehren leicht erkennbar ist, gerade hier ist die Ehrfurcht vor den Signifikanten der paulinischen Tradition doch arg im Schwinden begriffen. Daran hat auch die kleine philosophische Paulusmode in den Jahren zwischen 1980 und 2010 nicht so sagenhaft viel geändert.

Wie damit umgehen? Am allfälligen Spiel „meine symbolische Ordnung ist besser als deine“ mag ich mich nicht beteiligen. Ich glaube, eine Unterströmung universalisierbarer Weisheit lässt sich in allen Religionen und Kulturen finden. Aber oft ist es nicht das, worauf sie besonders stolz sind. Paulus ist schon ein Brocken, und um vieles in der scheinbar verebbenden christlichen Tradition weine ich nicht. Dennoch sehe ich in manchen Aspekten der paulinischen Denkungsart eine heute eher unterschätzte Kraft: Mir kam dieser Satz „Gottes Kraft ist in den Schwachen (oder in einem Augenblick der Schwäche) mächtig“ aus 2. Kor 12,9b spontan in den Sinn, als ich in der Zeitung las, Prinz Salman von Saudi Arabien habe den amerikanischen Außenminister Anthony Blinken bei seinem letzten Besuch mehrere Stunden lang warten lassen. Es sind ja manchmal diese kleinen Gelegenheiten, an denen sich Verschiebungen im Gefüge der Weltmächte deutlich zeigen. Ich stellte mir den Minister und Emissär einer alternden Weltmacht vor, in seinem Warten. Gekommen war er ja nicht, um im Zeichen des Kreuzes irgendwen zu besiegen oder arabische Muslime zu irgendeinem Christentum zu bekehren, und sicher erwartete Blinken auch nicht den Messias im arabischen Prinzen. Er war nur gekommen, um den jüdischen Staat und sein fragiles Verhältnis zu seinen Nachbarn sowie deren Schwächste selbst vor den schlimmsten Folgen der gegenwärtigen Gewalteskalation zu retten. Es dürfte für Mitglieder der US-Regierung außer Frage stehen, dass die westliche Welt gegenwärtig herausgefordert und tatsächlich auch gefordert ist, Stärke gegenüber den barbarischen Attacken seitens autoritär regierter Völker zu zeigen. Nun zeigte ihm ein Monarch, der in den Augen westlicher Weltoberschichten etwas wie ein Emporkömmling mit Neigungen zur Barbarei sein muss, wer hier möglicherweise historisch am längeren Hebel sitze.

Für diese Situation macht nun doch die Frage, welche Religion, möglicherweise einen Unterschied. Habe ich eine nicht nur strategische Weisheit parat, um erhobenen Hauptes, in Würde und bestimmt das Anliegen festzuhalten, für das sich die Delegation in den Wüstenstaat begeben hatte? Was bringt mich durch eine Situation, in der mit einer (noch etwas ungewohnten) Schwäche umzugehen ist? Das ist entscheidend: denn nicht nur die positiv gläubigen Christen, sondern (in anderer Mischung) die Menschen, denen Demokratie etwas bedeutet, werden weniger im Verhältnis zu denen, die ihre Interessen mit Macht und Gewalt durchsetzen und das richtig finden. Hier könnte sich erweisen, dass die paulinische Konzentration auf die realistische Auseinandersetzung mit der eigenen subjektiven Schwäche, doch etwas sehr Erwachsenes freisetzt. Vielleicht hat hier auf die Dauer die revidierte jüdisch-christliche Tradition etwas wie ein sehr gutes Alleinstellungsmerkmal? Eben weil sie sich, egal ob sehr jüdisch oder sehr christlich, nicht abfinden mag mit dem ach so natürlichen Recht des Stärkeren? Und das auch dann nicht vergisst, wenn sie Mittel weltlicher Stärke anwenden muss? Das ist natürlich nicht viel mehr als eine Hoffnung.

5.    Erwachsener Messianismus und das Problem der Hoffnung auf Rettung

 

Messianische Hoffnungen sind ja eigentlich immer Hoffnungen auf Rettung. Rettung wovor?

Darum streiten sich Philosoph:innen und Theolog:innen des Messianischen seit mehr als 2000 Jahren nicht weniger intensiv als um die Frage, wer oder was als rettend anerkannt, geglaubt, verehrt werden soll. Zunächst ist da die sehr weltliche Hoffnung auf Rettung vor Krankheit, Hunger, Verfolgung, Krieg und anderer Not. Der starke Held als Retter. Eine hochfahrende überzogene Verinnerlichung hat versucht, die Hoffnungen selbst vom Irdischen weg und auf Himmlisches hin zu lenken. Dazu halfen die sanften Rettungsfiguren der Heiligen, die durch Selbstopfer die größere Macht der Geistigkeit bewiesen. Die europäische Neuzeit mit ihrem trotzigen Barock, die Aufklärung spätestens, hat dieses Hochfahrende wieder geerdet, Nietzsche und ihm folgend die Psychhoanalyse haben das Eitle daran durchschaut.

Aber dann? Bleibt nur, sich abzufinden mit einer schlechten und ungerechten Welt? Oder kann die Sehnsucht nach einer besseren Welt mitgenommen werden in „reifere“ Seelenlagen?

Der Philosoph Emmanuel Lévinas hat das rabbinische Judentum einmal als eine Religion für Erwachsene bezeichnet. Der katholische Fundamentaltheologe René Buchholz hat diese Formulierung 2018 aufgenommen in ein bündig formuliertes Plädoyer für eine monotheistische Aufklärung.

Buchholz fasst zusammen: „Der jüdische Monotheismus  ist, wie Lévinas es sehr schön ausdrückte, ‚die hartnäckige Ablehnung einer politischen Ordnung…die nach wie vor keine Rücksicht auf die Schwachen nimmt und kein Mitleid mit den Besiegten hat, die sich als unerbittliche Weltgeschichte einer offensichtlich unerlösten Welt abspielt‘, kurz: ‚ererbtes Dissidententum'“.

Ich erlaube mir, hier daran an- und meinen Vortrag abschließend eine kleine eigene Empfehlung zum erwachsenen Umgang mit der paulinischen Lehre abzugeben:

Ein Messianismus, der Jesus, den Christus, als Universalschlüssel für alle Probleme empfiehlt, ist bestenfalls naiv, schlimmerenfalls infantil. Er verkennt die Systemfehler des über Jahrhunderte geübten Zwangs, an Jesus zu glauben, er verkennt, dass das Gesetz des Glaubens just so wirkt, wie Paulus es vom Gesetz beschreibt: er konstruiert eine nicht glaubhafte Geschichte, man möchte sie furchtbar gern glauben, aber eben indem man es möchte, kann man es schon nicht. Die Angst vor dem fordernden Gott wird eher verstärkt, die Sucht, unschuldig zu sein, ebenso. (Der christliche Glaube wird damit tatsächlich das, was Freud im Mann Moses beschreibt).

Ein Messianismus ohne Messias, wie Badiou, Agamben und ihnen Folgende beschreiben, übergeht die „Fabel“ vom Sühnopfer und versucht, das „Ereignis“ als solches phhilosophisch zu dynamisieren: Dieses alles erschütternde Ereignis, nach dem nichts mehr so sei wie vorher, an dem man dann aber in Treue festhalte, auch wenn äußerlich alles bleibt wie vorher. Ich habe das hier nicht intensiver behandelt. Möge es genügen zu sagen, dass in der psychoanalytischen Reifekonstruktion ein Festhalten und Wiederholenwollen der Erschütterung immerhin – aber auch bestenfalls – pubertär ist. Es hofft vielleicht nicht mehr auf den Deus ex machina, der alles gut macht, wenn ich nur lieb und artig bin, aber es hofft auf die Möglichkeit, dass ein für allemal etwas verändert werden könne, es klammert sich an die Initiation als das Ereignis, hinter das man nicht zurückkönne. Das ist wichtig als Schritt auf dem Weg zu einem erwachsenen Umgang mit der Zeitlichkeit, aber es ist noch nicht erwachsen.

Was wäre erwachsen? Wäre es nicht erwachsen, das Bewusstsein der Sehnsucht ebenso festzuhalten wie das Wissen um ihre Unerfülltheit, das Wissen um unsere Begrenztheit? Und tut Paulus nicht genau das, wenn er – durch welche obskure theoretische Operation auch immer – ergeben schreibt:

Ich danke Gott durch Jesum Christum, unserm HERRN. So diene ich nun mit dem Gemüte dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleische dem Gesetz der Sünde. (Röm 7,25)

Freilich – zur Innerlichkeit dieser Operationen in ihren Gründungstexten gehört als weitere Paradoxie, dass sie sich in einem Drang hinaus in alle Welt zeigt. Während das Judentum mit seinem nicht ganz so überdrehten Messianismus die auf eigene Weise erwachsene Kunst des Beisichbleibens zu großer Höhe entwickelte. In seinem Buch über Paulus fasste Daniel Boyarin die Pole der gegenstrebigen Entwicklungen so zusammen:

„The genius of Christianity is its concern for other peoples. The genius of Judaism is its ability to leave other peoples alone.”

Erwachsen wäre vielleicht, beide Tendenzen immer wieder neu auszubalancieren – im Bewusstsein dafür, dass durch kein Opfer, durch keinen Sieg und durch keine Niederlage der Zustand der Welt jemals ein für allemal zum Besseren gewendet sein kann. Auch der Zustand der einzelnen Seele nicht. Immer wieder werden die einzelnen Menschen und die größeren Verbünde angewiesen sein auf etwas, das Soma Morgenstern (in seinem Essay über Kafka) als einen „erbittlichen Richter“ bezeichnete.

Das Erbe des Messianismus wäre dann im paulinischen Christentum und im rabbinischen Judentum vor allem das Dennoch in der Hoffnung auf ein Diesseits, das frei werden wird vom Übel. Mein letztes Zitat für diesen Abend stammt deswegen von Hermann Cohen, über den wir in der nächsten Sitzung Inka Sauter hören werden:

„Der Messianismus aber bedeutet schlechthin die Herrschaft des Guten auf Erden. Man begegnet alltäglich der sonderbaren Ansicht, dass der Messias doch erst kommen könne, wenn das Unrecht aufhört. Aber das ist es ja eben, was der Messias bedeutet: dass das Unrecht aufhören werde.“ [3]

Dieses ist ein Blogbeitrag, keine wissenschaftliche Publikation. Darum sind nur die wichtigsten Zitate state of the art belegt, aber alle sind als Zitate erkennbar.

[1] Soma Morgenstern, Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth, Lüneburg 1997, S. 150. Im Kontext von Rosenzweigs „Letztes Erkennen richtet“ in Band V der Konversionen besprochen.

[2] Friedrich Nietzsche, Menschliches, allzu Menschliches, 1,66 u. 78.

[3] Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 1919, 2. Auflage 1988 Wiesbaden, Fourier, S. 24f.

„Das Diesseits wird frei werden vom Übel“ oder: Ist Paulus für einen erwachsen gewordenen Messianismus zu retten?

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