Zonenrandgebiete – eine Erinnerung 

Hier mache ich einen Text wieder zugänglich, den ich aus Anlass des 30. Jahrestages des Mauerfalls für die Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation geschrieben habe. Er ist schwer zu finden, aber imho gerade heute wieder aktuell. Wir brauchen nicht nur in der hohen Politik, sondern auch in einer zunehmend kollektivistischen Kulturszene ein Wiedererwachen des Bewusstseins für die Notwendigkeit von anders bleibenden Anderen, sowie für die Notwendigkeit, Konflikte „gut abgegrenzt“ zu bearbeiten und vielleicht sogar zu ertragen.

 

Zonenrandgebiete oder: „Amsterdam will ook een Muur“

 

I (Ein Gespenst)

 

Ein Gespenst geht um in Europa – und nein, es ist (schon lange) nicht (mehr) der Kommunismus. (Ob der nur betäubt ist und irgendwann wieder aufersteht, oder ob er in ewigem Frieden ruht, das will ich nicht beurteilen – aber vielleicht kommen wir noch im Laufe dieses Textes zu einer Vermutung).

Es ist auch nicht der Islamismus. (Der ist zu real, um ein Gespenst zu sein, und dass man ihn den Kulissenschiebern der diversen Interessengruppen und überkommenen Fraktionierungen überlassen hat, kann sich noch furchtbar rächen, wir wollen es nicht hoffen).

Es ist nicht einmal die scheinbar wieder erstarkte Rechte. (Die ist ebenfalls sehr ernst zu nehmen – aber sie hat so gar nichts Gespenstisches an sich, sondern ist so real wie der Kaffeefleck auf Ihrem neuen Hemd).

 

Nein, zu einem Gespenst gehört, dass wir es mit einem wirklich billigen Grundkurs in Psychoanalyse als Projektion eines verdrehten Wunsches erkennen, uns aber trotzdem dafür entscheiden, uns zu gruseln. Ja, Sie haben richtig gelesen: vor dem Gespenst wollen wir uns gruseln, obwohl wir uns wenigstens halbbewusst, sozusagen halbklar darüber sind, dass das Gespenst uns nur mit unseren eigenen verdrängten Wünschen konfrontiert. Nach diesen Vorerläuterungen können wir es in Ruhe vorstellen und etwas genauer in Augenschein nehmen:

 

II (Spaltung)

 

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Spaltung.[1] Es gibt unter den wohlmeinenden Europäern ebenso wenig wie unter den autoritären Führern der übrigen Welt in diesen Tagen  kaum ein Droh- und Scheltwort, das den Blutdruck der Leute so nach oben treibt wie dieses gar gruselige Wort. Das ist eigentlich ziemlich lustig, denn gleichzeitig ist ja unter postmodernen Theoretiker*innen der „Riss“ seit Jahrzehnten so fest etabliert als ein Topos, dass er sich neuerdings sogar auf die Straße wagt und zum Denkmal wird – freilich als ein gekitteter Riss, solide kommentiert vom substantivierten „Miteinander“, damit auch niemand die Botschaft verpasst, dass es um ebendieses geht: das substantivierte, eineindeutige, unentrinnbare, ungespaltene Miteinander.[2] Damit sind wir dann auch schon fast am Grund aller Missverständnisse um Spaltungen, Risse und die Rhetoriken der Einheit angelangt.

 

III (Das Wir)

 

Lohnen die Verhältnisse zwischen „dem Miteinander“ und seinem unheimlichen Wunschgegner, der „Spaltung“, ernsthaft eine Diskussion, und wenn ja, was haben sie mit Grenzen und den Zonenrandgebieten zu tun? Die Zonenrandgebiete sollen mir als eine Erinnerung dienen, die ein bisschen verständlicher machen könnte, was ich als den Wunschcharakter des Gespensts der Spaltung unterstelle: natürlich könnte ich Ihnen, wie ich es schließlich gelernt habe, den alten Sermon predigen vom israelitischen Gott, dem auch heute noch am Ende eines jeden Schabbat in der Zeremonie der Havdalah – der Unterscheidung, der Trennung – dafür gedankt wird, dass er die Welt erschaffen und zwischen „heilig“ und „profan“ unterschieden hat. Aber dann sagen Sie mir nur, dass das ja gerade das Problem der Juden sei, denen kein Geringerer als Hegel schließlich den „Geist der Trennung“ als ihr Schicksal beschieden hatte. Während wir ja immerhin Erben der all-versöhnenden, all-einenden christlichen Tradition sind, in der sogar Gott und Mensch eins werden. Und dann? Dann diskutieren wir „religionshistorisch“ – der Rest bleibt draußen. Ich möchte Sie (auch die Nichtreligionshistoriker*innen unter Ihnen) aber ja, ganz im Geiste „des Wir“, gern dabei haben, wenn ich über Einheit und Spaltung nachdenke. Ich möchte sogar in einem fast schon pathologisierenden „Wir“ mit Ihnen, ja mit Ihnen gemeinsam den Wundrand dessen besichtigen, was Sie Ihrer eigenen Ansicht nach so fürchten, wenn Sie die „Spaltung der Gesellschaft“ als das Grauen empfinden, denn das tun Sie doch? Ich möchte Sie also, wie es in den Wir-Reden immer so schön heißt, einladen, den Gründen nachzuspüren (nicht wahr, so sagt man doch?), aus denen Sie sich so umstandslos und bereitwillig vor der Spaltung fürchten, wenn man Ihnen das empfiehlt, während es Ihnen runtergeht wie Goldbronze, sobald Ihnen jemand nahelegt, als Gemeinschaft „mit einer Stimme zu sprechen“.

 

Und? Wie geht es uns damit?

 

IV (Kuschelzonen und Zonenrandgebiete)

 

Okay, ich werde wieder ernst und berichte über das Leben in Zonenrandgebieten, die wirklich ganz offiziell so hießen: „Zonenrandgebiet“, das waren die Gegenden, die in ihren früheren Leben – in diesem Fall: vor den 12 Jahren zwischen 1933 und 1945 – sehr zentral gelegen waren und von den entsprechenden Handels- und Verkehrsbeziehungen gut profitiert hatten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Schließung der innerdeutschen Grenze waren sie in eine extreme Randlage geraten: Ihre Verbindungen zu den benachbarten Städten und Dörfern im Osten waren rigoros unterbrochen. Grenzen zu den nördlichen, südlichen und westlichen Nachbarn waren kein ernstes Problem, auch wenn sie noch nicht ganz so offen waren wie heute – aber wer das Pech hatte, nahe der „Zonengrenze“, die zwei Welten unterschied, zu leben, war anerkanntermaßen auf besondere Förderung angewiesen, wenn er auch nur halbwegs auf denselben Lebensstandard kommen wollte wie die Menschen aus den übrigen Gebieten des Landes. Und das Frappierende an der alten Bundesrepublik war ja: Man gestand es ihm auch zu.

Als meine Familie in die Gegend von Helmstedt und Königslutter zog, war ich acht Jahre alt. Die Zonenrandzulage zum Gehalt meines Vaters sorgte dafür, dass wir als 6-Kinder-Familie nebst verwitweter Großmutter nicht viel ärmlicher lebten als andere: die Waren in den Läden waren billiger als etwa in Hamburg, die Straßen waren vergleichsweise leer – für uns Kinder schmeckte es nach einem kleinen Aufstieg, auch wenn die Wege nach Braunschweig uns weit erschienen und natürlich die meisten Kinder aus 2-Kind-Familien besser gekleidet waren: Auch uns ging es gut genug.

 

Dabei schienen tatsächlich, je näher man der Zonengrenze kam, die Dörfer und Städte desto düsterer und verlassener zu werden. Und die nahe Grenze war eine Realität, die man tatsächlich nicht vergaß – vor allem dann nicht, wenn der Lieblingsonkel Pastor in Mecklenburg war, so dass seine Familie nur unter großem Vorbereitungsaufwand besucht werden konnte. Aber zugleich warf die Grenze auf die Gebiete an ihrem Rande eben auch einen überaus wohltätigen Schatten. Wie sehr die Menschen sich darin eingerichtet hatten, zeigen nicht nur jüngere Studien über die Entwicklung dieser Zonenrandzonen: der kurze Boom nach Öffnung der innerdeutschen Grenze führte langfristig nur im nördlichen Teil jenes 40 km breiten Randstreifens zu einer etwas nachhaltigeren Verbesserung der Lage, während die südlicheren Gegenden schon bald wieder absackten und seit Beginn des Jahrtausends in ihrer Entwicklung anderen Gegenden in Deutschland ein wenig hinterher wie in ihren Zonenrandzeiten.[3] Auch das Phänomen „Republik Freies Wendland“ dürfte von der Situierung des Wendlandes im Zonenrandgebiet nicht gänzlich unberührt geblieben sein: schon die Auswahl dieses noch 2015 als „von allem weitab gelegen“[4] bezeichneten Gebietes für ein Atommüllendlager durch staatliche Stellen und Atomindustrie ist von verführerischer Symbolik – sie laden Verschwörungstheorien geradezu ein. Die gegenstrebige Entwicklung scheint aber ebenso zu tun zu haben mit der Zonenrandlage. Denn die gute wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik ebenso wie Zonenrand- und Berlinzulage erlaubten es gerade in den ersten Jahren des Widerstands in Gorleben auch gewöhnlichen Mittelschichtlern, sich in dieser Gegend mit Grund- und Immobilienbesitz zu versorgen – und dies dürfte keinen ganz kleinen Anteil an seiner Verstetigung sowie auch an seiner konstruktiven Wendung zu praktischer Erprobung alternativer Energien gehabt haben.

 

Am kuscheligsten war es aber ohne Zweifel dort, wo die Mauer am deutlichsten zu sehen war: in Westberlin. Als die immer ein bisschen außenfinanzierte Westberliner Gemütlichkeit neben ondulierten Kleingärten im Rudower Mauerschatten eben auch lotterige Kreuzberger Kneipen und die exzessiv provinziell-anarchische Sonnenallee-Szene erschuf, als selbst in Charlottenburg die Sumpfdotterblumen einer alternativen Kultur erblühten, da gefiel das Menschen aus dem In- und Ausland so gut, dass in einer jener Kreuzberger Kneipen in den sorgfältig abgegrenzten Toilettenkabinen, auf die die meisten von uns durchaus noch wert legten, an einer der Trennwände zu lesen war, was die Klobesucherinnen wirklich wollten: „Amsterdam will ook een Muur!“

 

V (Allein machen sie dich ein)

 

Der scheinbar kindische kleine Klospruch bringt es auf den Punkt: es war die Mauer, die jene außerordentlich befreite Atmosphäre zuwege gebracht hatte, welche dem Bonner ein Greuel und dem DDR-Funktionär ein Ärgernis war. In ziemlich hemmungsloser Frechheit formulierten sich gerade in Westberlin immer wildere und buntere Mischungen aus den Einkastelungen der Kader des westdeutschen Kommunismus ebenso wie aus anderen Verlegenheiten heraus. Die Freie Universität machte auf Rektoratsebene mit den „Orchideenfächern“ das Gleiche, was „die Weisheit der Geschichte“ oder „die List der Vernunft“ mit den sich in immer neuen Abspaltungen verlierenden Splittergruppen westdeutsch-marxistischer Prägung tat: Sie gab jedem mit dem Kollegen zerstrittenen Professor zur Befriedung der Verhältnisse und zur Gewährleistung eines ordentlichen Lehrbetriebes sein eigenes Institut – und konnte sodann in Ruhe auf dessen allmähliche Auflösung warten. Das erscheint Ihnen zynisch formuliert? Okay, Sie haben ja recht: zunächst waren alle diese kleinen Fächer sehr schön organisiert. Es gab den Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften I – da waren die richtigen Philosophen und die richtigen Soziologen usw. – und es gab den Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften II. Dem gehörten die Judaisten, die evangelischen und die katholischen Theologen, die Iranisten, die Sinologen, die Japanologen, die Archäologen, die Religionswissenschaftler usw. an. Und als zum Beispiel die Religionswissenschaftler sich nicht mehr nur von den Theologen und den Philosophen, sondern auch noch von den Religionshistorikern abgrenzen mussten, da bekamen dann die Religionshistoriker eben ein eigenes Institut, das nun aber als erstes keine eigene Villa in Dahlem mehr bekam wie alle anderen kleinen Fächer und Sonderinstitute vor ihm, sondern nur noch eigene Räume und ein eigenes bald nur noch halbes Sekretariat bei den Evangelischen Theologen. Und als der erste Judaist von dem zweiten Judaisten nicht mehr geduldet werden konnte, wurde er eben wieder Philosoph, was er in seinem vorjudaistischen Leben schon einmal gewesen war, und bekam ein eigenes Institut für Hermeneutik, das aber nun auch keine ganz und gar eigene Villa mehr besaß, sondern den Großteil seiner Lehrveranstaltungen im philosophischen Institut des Fachbereichs Phil-Soz I abhalten musste.

 

Spätestens mit diesen letzten Zersplitterungen und der Not gehorchenden behutsamen Rückführungen Abgespaltener in größere Einheiten war klar, dass das Ende der goldenen Jahre im Mauerschatten nahe war. Freilich: Gegen die Zersplitterungstendenz hatte sich bereits früher Widerspruch geregt – so ist das Lied „Allein machen sie dich ein“ von Ton Steine Scherben tatsächlich schon von 1972. Allerdings atmet auch das Mittel, das gegen die Zersplitterung empfohlen wird, den entsprechenden Zeitgeist: Man organisiere sich. „Wenn wir uns erst organisieren“, singt Rio Reiser, und „wenn wir uns erstmal einig sind“. Organisiertsein und Einigsein – das ist indes ganz etwas anderes als das Einssein und das „mit einer Stimme sprechen“, das wir heute allenthalben beschwören. Auch der Spott, mit dem 1979 die unvergleichliche Monty Python Komödie „Das Leben des Brian“ die Aufsplitterung der Widerstandsbewegung zur Zeit der römischen Besatzung Jerusalems in „Volksfront von Judäa“ und „Judäische Volksfront“[5] eindrucksvoll vorführte, ist etwas anderes als die ängstliche Warnung wohlbestallter Beamter vor einer „Spaltung der Gesellschaft“ in „der Flüchtlingsfrage“ oder in anderen Angelegenheiten, etwa der Frage nach der Verteilung gesellschaftlichen Reichtums.

 

VI (Divide et impera)

 

Wo es „sie“ und „uns“ – also dich und mich zum Beispiel, oder Sie und mich – gibt, wo man sich organisiert, da hat sich meist längst eine Gruppe dazu durchgerungen, an dem Projekt einer anderen Gruppe nicht mehr teilnehmen zu wollen. Sie befindet sich im Widerstand gegen andere, von denen sie annimmt, dass sie herrschen wollen. Manchmal wollen Leute auch wirklich einfach nur herrschen und geben zu diesem Zweck strategische Parolen wie „divide et impera“ aus, deren erste wirklich verbürgte Formulierung wohl tatsächlich von Machiavelli stammt: denn der scheute nicht den Skandal und bemühte sich nicht um Verschleierung, sondern erläuterte in seinem trockenen Rat an die Fürsten, was man zu tun habe, um ein Volk und einen intriganten Hofstaat unter Kontrolle zu halten. Selbstverständlich war dies nun gerade keine neue Einsicht und findet sich als Strategie in sehr vielen alten Texten – zugleich bleibt die Formulierung seltsam unpersönlich, typisiert, so eines von diesen Zitaten, deren Herkunft egal ist, weil jeder sofort zu verstehen glaubt, was gemeint ist, und etwas in der Hand zu haben, um die Machenschaften der anderen zu durchschauen. Divide et Impera: das ist die Mauer. Divide et Impera: das ist die Grenze. Divide et Impera: das ist die Zone. Und wo sie regiert, da muss paradoxerweise – so wäre meine These, wenn es hier um Thesen ginge – niemand die Spaltung fürchten, jedenfalls nicht als Gespenst. Wo der Gegner klar ist, da ist auch klar, wie gegen ihn vorzugehen ist. Der Umschlagpunkt ist da, wo der Gegner selbst längst von der inneren Spaltung bedroht ist und keine wirkliche „Mauer“ mehr bietet, in deren Schatten sich eine muntere, diverse, konfliktfreudige Kultur entwickeln kann. Insbesondere Selbstdefinitionen, sie sich auf Widerstand gegen Vorherrschendes gründen, geraten in solchen Situationen in Verlegenheit. Und dann fängt es an: denn wütet das Mitglied der jüdäischen Volksfront gegen den Außenseiter von der Volksfront von Judäa und beschimpft ihn als „Spalter“. Aus einem ähnlichen Grund könnte vielleicht die schöne „linke“ Kultur im Zonenrandgebiet mit dem Fall der Mauer und der innerdeutschen Grenze so trostlos ins Leere und schließlich in die Gespensterfurcht vor der „Spaltung an sich“ getaumelt sein: nicht weil zu wenig Einheit war, sondern weil plötzlich zu viel Einheit war. So viel, dass wir uns jetzt schon an Nordkorea, dem Familiennachzug der Flüchtlinge oder irgendwas mit Nahem Osten festhalten müssen, wenn wir uns noch als real (und real ist halt immer: irgendwie bedroht) spüren wollen. Hätten wir diese kleinen Mäuerchen auch nicht mehr – wir wären womöglich selbst diejenigen, die ganz gern mal spalten und herrschen würden?

 

VII (Kant hat es immer schon gewusst)

 

Über seine eigene Theorie zum Sexualleben der Menschen sagte Freud, die Dichter hätten es immer schon gewusst. Ich habe gedacht, mit Freud und anderen ist dazu gerade auch genug Stoff unterwegs, die Sache mit den Trieben und den sexuellen Identitäten lasse ich ausnahmsweise hier mal ganz auf der anderen Seite der Grenze liegen. Aber was die Gespensterfurcht in der Politik angeht, da glaube ich, war es Kant, der es schon gewusst hat, nämlich wie ambivalent wir da, Mauern hin oder her, bleiben werden. Im vierten Satz seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht liest man:

 

 

„Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen; d. i.] den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hierzu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften; weil er in einem solchen Zustande sich mehr als Mensch, d.i. in die        Entwickelung seiner Naturanlagen, fühlt. Er hat aber auch einen großen Hang, sich zu vereinzeln (isolieren); weil er in sich zugleich die ungesellige Eigenschaft antrifft, alles bloß nach seinem Sinne richten zu wollen, und daher allerwärts Widerstand erwartet, so wie er von sich selbst weiß, dass er seiner Seits zum Widerstande gegen andere       geneigt ist. Dieser Widerstand ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden, und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er wohl nicht leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. … Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben, oder auch zum      Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.“ (Immanuel Kant, Idee, A 392f).

 

VIII (Was sollen wir nun also sagen?)

 

In die schöne Harmonie der Zeit des Kalten Krieges werden wir so schnell nicht zurück finden. Aber es wird vielleicht schon helfen, wenn wir uns endlich eingestehen, dass uns diese Balance der relativ gleichstarken Gegensätze eigentlich ganz gut getan hat. Dass uns hingegen der Zusammenbruch der Spannung zwischen den gegensätzlichen Kräften durch den Sieg der einen Seite nicht wirklich bekommen ist. Dass wir vielmehr mit jedem final besiegten Feind als westliche Welt uns zu Tode siegen – und uns vor allem in die Dummheit und den Aberglauben einer Gespensterfurcht zurückbewegen, in der uns (psychoanalytisch gesprochen) die „Ursuppe der Einheit“ als das wahre Glück erscheint, weil unsere Kräfte zu rivalisierender Auseinandersetzung erlahmen. Ich fange jedenfalls erst da wieder an, mit zu denken, wo nicht die totale Gemeinschaft gegen einen imaginären totalen Egoismus irgendeines frisch erwählten Bösewichts berufen wird, sondern Rivalität produktiv angenommen wird. Ich kann Leute, die ihre Gegner wirklich absolut vernichten wollen, theoretisch nicht ernst nehmen. Praktisch muss ich es, wenn ich auf die Feindseite geraten bin, schon klar. Dann muss ich mich wehren und der Vernichtung etwas entgegensetzen. Was aber die Rivalitäten zwischen ganzen Kulturen und Staaten ebenso wie die zwischen Wirtschaftsunternehmen und Einzelmenschen angeht, so glaube ich, dass man sie dauerhaft nicht durch die völlige Verohnmächtigung (oder „totale Integration“) des einen durch den anderen lösen kann, sondern eher dadurch, dass man die möglicherweise gegensätzlich bleibenden Interessen nüchtern und mit dem leisen Lächeln von Kants Natur ausbalanciert. Mit Mauern, oder ohne, aber jedenfalls so, wie es die Psychoanalytiker „gut abgegrenzt“ nennen.

 

IX (Ach ja, und das Judentum?)

 

Über das Judentum und sein Verhältnis zum machtmäßig erdrückend übermächtigen, theoretisch aber in vieler Hinsicht nicht satisfaktionsfähigen Christentum schrieb Daniel Boyarin einst einen wunderbaren Satz: „Das Geniale am Christentum ist sein aufrichtiges Interesse an anderen Völkern, das Geniale am Judentum ist seine Fähigkeit, andere Völker in Ruhe zu lassen.“ Grundsätzlich ist das so. Es gibt freilich Zonenrandgebiete, an denen es auch mit Mauer noch ein bisschen schwierig ist.

 

X (Und was wird aus dem Kommunismus?)

 

Das weiß ich immer noch nicht. Vielleicht nimmt er eine Frischzellenkur beim ethischen Sozialismus neukantianischer Prägung?

 

[1] Ich habe diese Idee zuerst in einem 2017 veröffentlichten Text sehr ernsthaft formuliert, nämlich in: „Europe 2016: The Rhetoric of Unity and the Rise of Neo-Authoritarianism“ in: The Europea Legacy, Vol 22, 2017, The Republic of Letters and Political Reality“, Routledge 2017,  http://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/10848770.2017.1368782

[2] Selbstäußerungen der „Macher“ des neuen Mahnmals am Breitscheidtplatz in Berlin zum Beispiel hier: https://www.morgenpost.de/berlin/article212885273/Der-Riss-am-Breitscheidplatz-Wie-das-Mahnmal-entstand.html.

[3] Zahlen, Daten und Fakten zum realen Zonenrandgebiet: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/170619/am-ende-der-welt-entwicklung-des-westdeutschen-zonenrandgebietes-seit-der-wiedervereinigung. Natürlich sind das erstmal nur Daten – über die Gründe kann man nur spekulieren. Aber es ist zumindest nicht a priori ausgeschlossen, dass einfach eine gewisse Mentalität, wie sie sich bei Menschen mit anerkanntem Anspruch auf besondere Förderung ausbildet, ein gewisser Mangel an Übung in eigenständigen Investitionen etc., daran nicht ganz unschuldig ist.

[4] http://www.deutschlandfunkkultur.de/protestkultur-in-gorleben-die-alten-rebellen-und-die.1001.de.html?dram:article_id=313703

[5] https://www.youtube.com/watch?v=6pwmffpugRo

Zonenrandgebiet – eine Erinnerung

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