Das Goldkind wurde im Nachdenken erfunden. Es hatte die Füße unter sich gelegt, den Kopf nach hinten gewendet. Hatten wir ihm nicht immer gesagt, dass zur Salzsäule erstarren würde, wer sich umsehe? Hatte es nicht schon in der Bibel gestanden? Lots Weib aber sahe sich um und erstarrte zu einer Salzsäule! Das hatte der Herrgott doch nicht umsonst seinem Mose in die Feder diktiert. Waren sie nicht aus Ägypten ausgezogen? Hatten sie nicht die größte Strafe und Schmach erfahren, als sie sich umdrehten und zurückwandten und ihr Sklavenhaus ihnen plötzlich, verglichen mit der Wüste, in der sie seit Jahren herumirrten, wie das Paradies selbst erschien? War denn das der Grund, fragte das Goldkind, war es nicht das Goldkalb, das sie dann gefertigt hatten? Wie kann es nur so pedantisch sein, sagte meine Frau, und ich versuchte es mit Geduld, denn das Kind musste lernen, und es würde nur lernen können, wenn es gelehrt würde, wie ich es zu lehren gelernt hatte, mit Milde, Geduld und Freundlichkeit. Schau einmal, sagte ich, sie sind ja doch nur auf die Idee mit dem goldenen Kalb gekommen, genauer, Aaron ist ja doch nur auf die Idee mit dem goldenen Kalbe gekommen, weil das Volk murrte, weil es sich eben zurücksehnte nach Ägypten, und weil Mose gerade nicht da war, der sich darauf verstand, dem kindischen Volke gut zu zu reden, ergab sich Aaron, wie es heißt … 

SIEH MICH AN, WENN ICH MIT DIR SPRECHE!!!!!!!!!!!!

Aber das Kind sah weiter zurück.

Wir müssen nach vorne blicken, versuchte es meine Frau, indem sie mir ihre sanfte Hand auf den Mund legte. Wir müssen immer, das ist der Sinn dieser Geschichte, nach vorne blicken. Dort wird der Herr uns das Ziel unserer Bemühungen weisen, und wie ein Magnet die Metallspäne anzieht, so wird seine Herrlichkeit uns zu ihm ziehen, wenn wir nur ablassen von Übel und Sünde und uns öffnen für seinen Ruf alle Tage.

Ich wurde ungeduldig, dieses Gerede vom Sinn, es war doch viel zu viel Erklärung darin, und Mose, als er vom Berge Sinai herabkam mit den Tafeln in der Hand und sahe, was das Volk getan hatte, während er auf dem Gipfel mit Gott selbst verhandelt hatte um seinetwillen, er hatte doch niemandem irgendeinen Sinn erklärt, geschweige sich von seiner Gattin den Mund versiegeln lassen, nein, Mose, gebenedeit sein Andenken, hatte die Tafeln zerschmettert und hernach Ordnung geschaffen ohne Rücksicht … und ich sprach alle diese Gedanken laut aus und in die Richtung meines ungehorsamen Kindes, das schließlich auch seinen Kopf zu mir wandte, freilich in einem bockigen Schweigen.

Wir müssen es zu einem Arzt bringen, sagte meine Frau am andern Morgen, es wird uns sonst noch ganz entgleiten. Ich wischte den Gedanken fort, es liegt alles nur daran, dass du es verhätschelst, du bist selbst weichmütig in deinem Mutterherzen, sagte ich, das ist verständlich, aber du tust ihm keinen Gefallen, und ich war sicher, als ich die Augen meines Weibes sah, ich würde sie überzeugen.

Die Tage gingen ins Land, wir hatten zu tun, das Leben war karg und schwierig, und selten nur hatten wir Zeit, nachzuschauen, wie das Kind sich hielt, wenn das Tagwerk an Haus und Hof getan war, zu dem wir es tüchtig mit anhielten. An Erntezeit fuhr ich für drei Tage in die Stadt, um von unseren Erträgen auf dem Markte feilzubieten, Frau und Kind blieben zurück, um sich um das Vieh zu kümmern und die Früchte zu verarbeiten.

Am Abend meiner Rückkehr traf ich das Kind in derselben Haltung an, die es liebte: Sitzend, die Beine unter sich, den Kopf nach hinten gewendet. Es drehte nicht seinen Kopf, um mich zu grüßen.

Sie habe Rat geholt, sagte meine Frau, nachdem ich das Kind gestraft und gezwungen hatte, mich anzusehen. Während es erschöpft von der Prügel in seinem Verschlag ausruhte, wo es ruhig einmal nachdenken sollte, wofür es derartig gestraft worden sei und warum du deinen Vater grüßen sollst, erzählte sie mir, die Lehrerin habe sie angesprochen und gesagt, das Kind habe eine Depression, es müsse behandelt werden.

Von Depression steht nichts in der Bibel, sagte ich, was soll das sein, wir müssen Acht haben, dass es uns nicht zu einer Salzsäule erstarrt. Die Lehrerin habe ihr erklärt, Depression sei so etwas wie eine Erstarrung, sagte meine Frau, es sei eine seelische Krankheit, die aber im Stoffwechsel begründet sei. Ich nahm einen kalten Waschlappen und legte mich schlafen: Weib, sagte ich, belaste mich nicht mit diesem neumodischen Kram, wir müssen morgen wieder früh an die Arbeit. Anders als das Kind gehorchte das Weib sofort.

Am andern Morgen war das Kind wie ausgewechselt. Es trug noch ein paar blaue Male an Armen, Rücken und Beinen, aber es war fröhlich und munter, demütig und bescheiden, es frühstückte ordentlich, aber in Maßen und machte sich auf seinen Weg zur Schule. In den folgenden Wochen blieb es so. Es verrichtete nach der Schule die ihm übertragenen Arbeiten willig, es lächelte und sang, und ich lachte, siehst du, sagte ich zu meiner Frau, manchmal muss man einem Kinde einfach zeigen, was sich gehört, und schon ist die Salzkrankheit wie verschwunden; erweist sich als eine Erfindung der Lehrerin, die ohnehin nur auf eine Gelegenheit wartet, die Harmonie einer einfachen Familie vom Lande zu stören.

Der Winter kam, das Vieh musste in seinen Stallungen versorgt werden und in der Werkstatt war viel Schnitzwerk zu tun, das auf der Frühjahrsmesse verkauft werden sollte für das nachfolgende Christfest, denn man pflegt weit vorauszublicken in unseren Gemeinden. Wir saßen viel zu dritt in der Werkstatt, jedes mit einem Werkstück in der Hand, die Tage unterbrochen nur von den Mahlzeiten, von Gebeten und Bibellesungen. Das Kind hatte in der Schnitzerei eine goldene Hand. Was immer es anfasste, die Figuren gerieten ihm fein und natürlich und elegant, und manchmal seufzte ich und sagte, würdest du nur deine Bibel so lernen wie du es verstehst, ihre Bilder in Holz zu werkeln. Eines Tages frug das Kind, ob es nicht an die schöne Krippe auch eine Frau Lot stellen dürfe, immer nur Ochs und Esel und Könige und Hirten und Maria als einzige Frau. Es denke daran, eine Frau im Umdrehen zu schnitzen, es habe lange die Mutter studiert, wie sie sich drehe und wende, wenn sie aus ihrem Sitz aufstehe, um zur Küche zu gehen, und es würde sehr gern eine Figur im Umwenden schnitzen.

Da ich eben an einem komplizierten Mariengesicht schnitt, konnte ich nicht sofort aufbrausen, um dem Kind seine empörenden Studien an der eigenen Mutter, meinem Weibe, auszutreiben, und etwas im Blicke meiner Frau war so dringlich, als sie ihren Finger auf den Mund legte, dass ich für diesmal mich bezwingen ließ und abwartete, wie sie es machen würde.

Schau einmal, mein Goldkind, sprach meine Frau zur Frucht ihres Leibes, es ist sehr lieblich von dir, dass du jetzt im Winter in Holz schnitzen möchtest, was du im Sommer gelernt hast, aber hast du denn nicht verstanden, was der Herr uns mit der Weihnachtsgeschichte sagen möchte? Für ihn ist mit der Geburt des Christkindes alle alte Schuld, die von Sodom und Gomorrha und die vom goldenen Kalb und manches mehr einfach wie weggewaschen, das Kind ist ein neuer Anfang, und wir dürfen fortan alle nach vorn gewandten Texte der alten heiligen Schriften auf es hin lesen. Alles Alte ist weggewaschen, weil das Jesuskind willig die Schuld der Menschen auf sich nehmen wird und alle ihre Strafe tragen, so willig, wie du einst im Herbst deine Strafe getragen hast, nachdem du deinen Vater nicht anständig begrüßt hattest, und wie dann mit aller deiner Schuld auch deine Depression wie weggewaschen war.

Da lachte das Kind, ermuntert von der Laszivität der Mutter und aufgereizt durch ihre allzu freundwillige Erklärung, und kam ins Plaudern und Schwatzen und sagte, die Depression, die hätte es sich doch nur weggelacht, weil es gesehen habe, wie es einem Pechkind in der Schule ergangen sei. Über dieses hätte nämlich ein Familienrat beschlossen, dass es, da unfromm und unzugänglich allen Ermahnungen, von der Mutter wie vom Vater, depressiv sei und behandelt werden müsse. Das Pechkind aber hätte gesagt, es sei nicht depressiv, es glaube nur einfach alle diese heiligen Geschichten nicht und werde so bald als möglich in die Stadt ziehen, um dort Medizin zu studieren. Da hätten die Eltern des armen Kindes gesagt, wir werden dich lehren, Medizin zu studieren, und wenn du nicht depressiv bist, so werden wir dafür sorgen, dass du es wirst, und hätten es auf Brot und Wasser gesetzt und tagelang im Stall eingesperrt, hätten ihm Medizin in seine Mahlzeiten gemischt und dafür gesorgt, dass niemand freundlich mit ihm spräche. Auf Einschreiten der Lehrerin hätten sie es dann wieder zur Schule geschickt, sie hätten es auch nicht mehr geschlagen, aber sie hätten jedem erzählt, wie schlimm krank das Kind sei, und dass man vorsichtig mit ihm umgehen müsse, es nicht verwöhnen aber auch nicht zu hart rannehmen dürfe, und die Mutter wäre sogar in eine Gruppe gegangen, in der Angehörige von Depressiven einander die Ohren volljammerten über ihre schrecklich kranken Kinder. Am Ende habe man das Pechkind tot aus dem See gefischt, in den es sich selbst versenkt hatte mit einem schweren Stein am Fuß, denn es war zu begabt zum Schwimmen gewesen, um ohne einen solchen Stein den eigenen Tod herbeiführen zu können.

Nach diesen Geschichten, lächelte das Kind, habe es sich gesagt, lieber vom aufbrausenden Vater dann und wann geschunden als derartig zum Tode von eigener Hand geschont wie das Pechkind. Da errötete mein Weib und tupfte sich eine Träne aus dem Auge. Du sollst nicht zurückblicken, sagte sie sodann, blick nur nach vorne, sagte sie, und schaute mich flehentlich an, dein Vater wird dich nicht mehr prügeln, aber er wird auch niemandem erzählen, dass du krank bist. Ich musste sehr schlucken und wurde für mehrere Wochen krank, denn in meinem Herzen rangen Empörung und Sorge miteinander. Mein Weib sagte, es ist wahrscheinlich eine Depression, und ich sagte, wenn du es denkst, so sag es niemandem, damit ich nicht eines Tages im Salzsee erfunden werde. Sie versprachs mir in die Hand und hielt sich auch dran, das brave Weib.

Wir sprachen nicht viel, meine Frau und das Kind machten die Schnitzereien, wir verzehrten unsere Wintervorräte und beteten und sangen und feierten das Christfest und den Jahreswechsel und blieben in Glauben und Frieden und gutem Zusammenhalt. Wir alle wollten nun nach vorn blicken, das sagte sie mir auch an jedem Tag, wenn sie an mein Bett trat.

Nach einer Zeit, als die Tage wieder heller wurden, stand ich auf. Das Goldkind hatte viel geleistet, ein höchst unwahrscheinliches Arbeitspensum, ich musste dankbar sein und einsehen, dass meine Kräfte abnahmen, seine aber wuchsen, und wir dankten dem Herren. Auf die größte der von ihm gefertigten Krippe aber hatte das Goldkind auch eine Frau Lot geschnitzt. Sie stand freilich nicht, sondern saß gerade so, wie das Kind selbst zu sitzen pflegte, wenn es sich ans Nachdenken verlor, und unter ihr wuchs etwas wie Mäusegerste in die Höhe. Die Krippe würde niemand kaufen, dachte ich noch, bevor die ewige Nacht sich auf meine alten Augen legte.

Das Goldkind. Eine salzige Geschichte

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert