Manchmal sind es bloße Zufälle, die ein gutes Foto oder eine andere Form des Nachdenkens zur Realisierung bringen. Religionen, besonders die meine, die protestantische, tun sich mit Zufällen schwer. Einerseits haben seit Beginn der aufklärerischen Kritik die Klügsten unter den Apologeten mit großem Recht geschrieben, dass die Religionen gerade dasjenige zu ehren lehren, was wir eben nicht in der Hand haben – und noch heute hört man sie predigen, dass wir doch für das Geschenk des Lebens zuallererst dankbar sein müssen, und dass jede kleine Geste des Vertrauens darauf beruht, mehr oder weniger bewusst mit dem umzugehen, was der große Friedrich Schleiermacher unsere schlechthinnige Abhängigkeit nannte.

 

Wie schlechthinnig unsere Abhängigkeit wirklich ist – und ob sie nicht mehr oder weniger stark ist, je nachdem, ob wir gerade Säugling oder Erwachsener, gesunder junger Mensch oder zerfallender Greis sind – das sei dahin gestellt. Erst recht darf man bezweifeln, dass die Feststellung dieser Abhängigkeit schon zu einer positiven Rede von einem Gott berechtigte, der die Lücke füllt und stets freundlich für uns sorgt, damit die Abhängigkeit auch genießbar sei.

 

Aber andererseits ist es eben gerade die evangelische Kirche, die mit ihrer methodischen Lebensführung gern alles gründlich durchplant und nichts freiwillig dem Zufall oder gar dem göttlichen Eingreifen überlässt. (Wie sehr sie diesen Zug an das säkulare Zeitalter weitergegeben hat, habe ich ja in einem früheren Blog-Beitrag schon beschrieben). Das Lutherjahr wurde generalstabsmäßig organisiert, und man hatte sich Leute in die Leitungsgremien und Exekutiven geholt, die als Marketing-Experten ebenso schon Fußball-Großereignisse und Messen beworben hatten. Mag der Zug zum Methodischen bei den reformierten Kirchen besonders ausgeprägt sein, so ist er doch auch anderen Religionen nicht fremd. Sobald sie das Stadium der „bloß charismatischen Führung“ hinter sich gelassen und einigermaßen mächtige Institutionen ausgebildet haben, wollen diese sich auch erhalten und erweitern, und wer dazu kompetent beitragen kann, bringt es in ihnen regelmäßig weiter als der einfache Gläubige, der gerade die Bescheidenheitsforderung des Christentums (die sich aber auch in den Glaubens- und Sittenlehren so ziemlich aller anderen Religionen wiederfindet) allzu persönlich nimmt und also schön bescheiden lebt.

 

Ebenso regelmäßig freilich tun sich immer wieder frustrierte Gläubige zusammen und wollen die „verkrusteten Strukturen“ dann aufbrechen. Ob die Sufis und die Alewiten im Islam, die immer neuen Mönchsbruderschaften in der vorreformatorischen Kirche oder die Reformation selbst, ob die Freikirchen oder die verschiedenen chassidischen und anderen Bewegungen im Judentum, ob im fernen Osten oder im nahen Westen: überall wollen immer mal wieder Erneuerungsbewegungen die Verhältnisse zum Tanzen bringen.

 

Die alten Institutionen kennen auf diese Bewegungen in der Regel zwei Reaktionen: 1. Unterdrücken. 2. Abholen und Einbinden. Die gegenwärtigen Proteste im Iran zeigen, dass auch in der härtest-gesottenen Theokratie immer wieder Menschen einfordern, dass die Verhältnisse bitte wieder in Bewegung geraten mögen, und das saudische Königshaus hat tatsächlich in sein eigenes Machtkalkül ein gewisses Unbehagen westlicher Kooperationspartner an der Geschlossenheit seiner Theokratie mit „eingepreist“, indem es seinem Volk eine vorsichtige Öffnung verordnet.

 

Wo immer sich etwas bewegt, ist dem Machtkampf und dem massiven Konflikt der Interessen ein kleines Element von Tanz beigegeben – also von einer gemeinsamen Bewegung, in der einer auf die Antwort des anderen angewiesen ist. Auch der Tanz folgt Regeln, die sehr genau festgelegt sei können – aber schön wird er erst dann, zu neuen Ergebnissen führt er erst, wenn er nicht nur korrekt abbewegt wird, sondern improvisatorische Elemente und ein surplus des Zusammenspiels von eigener Qualität zeigt.

 

Ich selbst habe mich nie an der Tangomode beteiligt und verstehe davon so wenig wie vom Bauchtanz. Aber ich habe gesehen, was aus beiden Tanzkünsten wird, wenn sie allzu bewusst in Kirchen und Führungskräfteausbildungen (zu denen ja die mittlerweile nur besser verdeckte Ausbildung des geeigneten Partners leider nach wie vor gehört) eingesetzt werden, um einer in Wahrheit strikt hierarchischen und funktionalistischen Einrichtung wenigstens den Anschein von Freiheit und Leichtigkeit zu geben. Klassisch psychoanalytisch gesprochen würde man sagen müssen: Ursprünglich der Kultivierung des Erotischen dienend, treten die Tanzaktivitäten bald ganz in den Dienst eines aggressiven und mit Perfektionismus quälenden „Über-Ich“ – und verwandeln sich von einer Öffnung in der Mauer zu einem weiteren Mauerstein.

 

Diese Verwandlung lässt sich wohl nie und nirgends verhindern. Ihre Kehrseite ist, dass manchmal auch ein mit voller Absicht dicht verpflasterter Platz durch eine kleine falsche Bewegung am Fotoapparat in einen wilden Tanz ausbrechen kann, der aus einer dem Dienst an der Kultur verpflichteten und für manche Schrägheiten der Kultur tatsächlich offenen Kirche mitten in der deutschen Hauptstadt eine Art Spitzentänzerin wider Willen macht. Wie immer es zu der großen Bewegung in den Straßen des Iran gekommen sein mag, ob durch mehodische Planung oder spontan: Den Protestierenden im Iran wünsche ich, dass ihre Führung sich ähnlich auf den Kopf stellt wie hier die Matthäuskirche, um das Land kulturell weiter und seiner ganz eigenen Freiheit näher zu bringen.

Die Verhältnisse zum Tanzen bringen

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