Der Totensonntag nähert sich seinem Ende. Mit ihm das Kirchenjahr. Das ganze komplexe System, das sich in den verschiedenen christlichen Kirchen und Denominationen um diese Einrichtung des Kirchenjahres entfaltet, möge studieren, wer sich dafür interessiert. Von irgendeiner Relevanz ist diese Parallelrechnung zum „bürgerlichen Kalender“ zur Zeit noch für ca. 51% derjenigen Deutschen, die einer der beiden großen Volkskirchen angehören. Diese schrumpfen seit einiger Zeit etwa gleichstark vor sich hin – https://www.mdr.de/religion/neue-kirchenstatistik-vorgelegt-weniger-christen100.html.

 

Auch das, was früher als Teil ihrer „Kernkompetenz“ galt, Fürsorge für die Toten und ihre Hinterbliebenen – das, womit in aller Welt die Kulturen beginnen, ihre Imaginationen über die sichtbare Realität hinaus wachsen zu lassen – ist längst für viele zu einer säkularen Angelegenheit geworden, zu bewerkstelligen von säkularen Dienstleister:innen und Expert:innen fürs „Menschliche“. Ich arbeite seit mehr als 15 Jahren auf diesem Gebiet und habe im Laufe dieser Jahre noch einmal neu zu buchstabieren begonnen, was Menschen, die von ihrer Sterblichkeit wissen, brauchen. Herausgekommen ist kein fertiges Alphabet, keine verkündbare Meinung, kein Dogmengebäude oder etwas Lehrbuchtaugliches. Ich hoffe, ich werde niemals einen weiteren Ratgeber für den Umgang mit Trauer oder irgendeine Phasenlehre schreiben, in der Gesetzmäßigkeiten formuliert würden, die dann die geneigten Leser:innen mit ihren eigenen Erfahrungen abgleichen können. Denn wozu würde so etwas gebraucht? Es wäre doch viel zu eng noch in der Struktur dessen gefangen, was der große Soziologe Max Weber die „methodische Lebensführung“ genannt und zum zentralen gemeinsamen Merkmal von Protestantismus und Kapitalismus erklärt hat. Nun ist gegen eine gewisse Rationalität, mit der man sich Ziele setzt und nach Mitteln sucht, sie zu erreichen, sicher nichts einzuwenden. Aber das, was wir üblicherweise in religiösen Kontexten tun und denken, plagt sich ja eher mit den Lebenslagen ab, in denen diese Rationalität allenfalls noch sehr begrenzt funktioniert. Und die Psychologie, die in westlichen Gesellschaften für viele an die Stelle der altbackenen kirchlichen Seelsorge getreten ist, untersucht am liebsten die blinden Flecken unserer vermeintlichen Rationalität, die Stellen, an denen die Begründungen unserer Zielsetzungen und der oftmals fehlgehenden Wege zu ihrer Erreichung sich als fadenscheinige „Rationalisierungen“ erweisen. Die Arbeit solcher Psychologie ist sicher oft hilfreich und führt in der therapeutischen Praxis tatsächlich oft dazu, dass Menschen weniger leiden und klarer mit ihren erfüllbaren und unerfüllbaren Wünschen, mit ihren realistischen und unrealistischen Befürchtungen sowie mit zwischenmenschlichen Konflikten umgehen können. Aber wo die Psychologie sich zu einer Wissenschaft und Welterklärung aufschwingen, gar den Menschen Ziele vorschreiben will, ist sie wie alle anderen Welterklärungen und „Wertesysteme“ auch in der Gefahr, selbst dogmatisch und also zum „stählernen Gehäuse“ zu werden, aus dem vermutlich mehr Menschen gerne austreten möchten als sich von Psychologismen unbelästigte Menschen träumen lassen.

 

Gerade in der Konfrontation mit dem Tod machen Menschen ja viele Sachen, die wir auch mit bester Psychologie nicht erklären können, und ich vermute, dass der Tod ebenso viele ehemals Gläubige in den Unglauben treibt, wie er ehemals Ungläubige zum Glauben stimuliert. Das ist vielleicht schon das Beste, was darüber zu sagen ist: denn es lässt hoffen, dass Menschen gerade deswegen, weil sie ihren Tod wissen und irgendwann auch emotional realisieren, dass er sie unweigerlich einst (oder bald) treffen wird, eine minimale Freiheit gegenüber allen stählernen Gehäusen haben. Man kann sie im Namen dieses oder jenes Weltdeutungssystems verfolgen, quälen und töten – aber man kann das, was wir in den christlichen Welten „Glauben“ nennen, nicht in sie hinein oder aus ihnen herausprügeln. Sie glauben immer nur das, was sie glauben können, was sich ihnen in ihrer je spezifischen Welterfahrung und in ihrer je spezifischen Kommunikation mit anderen Menschen „erschließt“. Wenn eine iranische Klettersportlerin ihr Kopftuch weglässt, danach offenkundig entführt wird und sich später unter Zwang von dieser Geste distanziert, dann hat die Gewaltherrschaft zwar ihre Gewalt bewiesen. Aber jeder weiß, dass die Sportlerin nur das zum Überleben Nötige gesagt hat – und dass damit ein rein formales Bekenntnis zum Deutungssystem der Herrschenden abgelegt wurde, nicht mehr, nicht weniger.

 

Das europäische Christentum hat Erfahrungen mit dem Ungenügen an erzwungenen Bekenntnissen dieser Art. Die christliche Inquisition und der antijüdische Rassismus sind daraus entstanden, dass man den zwangsgetauften Juden ihr christliches Bekenntnis nicht glaubte – und deswegen nach Herkunft und nicht nach formalem Bekenntnis verfolgte. Die Idee – so wurde behauptet – war, dass sich die Menschen auch innerlich zum Glauben bekehren sollten, dass man ihre Seelen durch Feuer und Schwert in den wahren Glauben treiben und damit schließlich retten müsse. Wohl dem, der sich heute in so sicherem Abstand von derartigen Ideologien wähnen kann, dass er darüber nur noch verständnislos den Kopf schüttelt. Ich fühle mich da nicht so sicher. Denn ich habe immer wieder mit Menschen zu tun, die in für mein Empfinden krudester Weise in ihren Ideologien feststecken und, hätten sie die Gelegenheit, offenbar nicht davor zurückschrecken würden, auch andere Menschen mit ihren Glaubenssätzen zu beglücken. Deswegen mache ich mir seit langem weniger Sorgen um die Religionen noch um die „richtigen“ Gedanken und Gefühle der Menschen, und mehr um die Aufrechterhaltung unserer demokratischen Institutionen. Natürlich funktionieren diese nur, wenn die Menschen an ihren Sinn glauben. Und zwar mehr als an den Sinn ihrer mehr oder weniger persönlichen Konstrukte von Lebenssinn und Todesvermeidung, von methodischer Lebensführung oder Heilsgewissheit nach dieser oder jener Theologie. Aber anders als andere Glaubenslehren haben sie es nicht nötig, den Glauben an sich mit Gewalt zu erpressen. Sie dürfen sich in Frage stellen lassen, sie können sich kritisieren lassen, sie können wie einzelne erwachsene Menschen auch damit leben, dass sie die Menschen eben nicht ganz und gar glücklich machen, von Leid und Tod befreien und in ein ewiges Heil führen können. Sie sind nie mehr als ein paar relativ gut bewährte Einrichtungen zur Verhinderung von Zerstörungsorgien, die überall da ausbrechen, wo totalitäre Systeme „den ganzen Menschen“ kontrollieren, jeden Schritt der Lebensführung bestimmen und ein zuinnerst empfundenes Bekenntnis zu dieser oder jener Lehre darüber, was uns nach dem Tod erwartet, noch aus den letzten Lebensworten sterbender Menschen herauspressen wollen. Als solche sollten sie uns kostbar sein.

 

Und die schrumpfenden Kirchen? Ich glaube, sie können an ihrem Machtverlust in Deutschland und in der westlichen Welt insgesamt durchaus reifen. Wenn sie begreifen, dass ihre Macht vergänglich ist wie die der einzelnen Menschen – vielleicht erweisen sie sich gerade dann erst wirklich als Gefährtinnen der einzelnen Sterblichen in ihrem jeweiligen Leid. Dein Wunsch nach mehr Leben wird nicht erfüllt? Meiner auch nicht. Lass uns vielleicht einmal gemeinsam weinen. Und lass uns gemeinsam versuchen, das Leben, so viel wir eben davon sehen können, zu ehren, zu feiern, zu leben.

 

(Foto von meiner lieben Freundin Judith Schwieder)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gedanken zum Totensonntag 2022

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