Wer meine Texte kennt, weiß, dass ich extremen religiösen Konservatismus für eine alle Religionsgrenzen transzendierenden gefährlichen politischen Wahnsinn halte. Die extrem Konservativen in den Religionen haben viele Merkmale gemeinsam und unterscheiden sich in ihrer besonderen Neigung, die Weiblichkeit zu kontrollieren, allenfalls graduell. Weder die radikalen Islamisten noch die kreationistischen Evangelikalen noch irgendwelche anderen religiösen Konservativen, etwa vatikanische Katholiken oder nationalistische Hindus, sind dem Projekt einer Befreiung und Gleichberechtigung der Frauen gegenüber besonders aufgeschlossen.

An den Irrungen und Wirrungen und schlimmen Verirrungen der Internationale der Religiösen Reaktion hat selbstverständlich auch das ultraorthodoxe Judentum seinen Anteil. Dieser wird neuerdings grell beleuchtet durch einen kleinen Zwischenfall in Bnei Barak: In diesem überwiegend von Charedim bewohnten israelischen Städtchen wagte es eine Braut, bei ihrer Hochzeitsfeier ans Schlagzeug zu gehen und ein bisschen mit zu trommeln. Jemand aus der Familie filmte die Szene, das Video „went viral“ – und nein, sie wurde wohl weder geprügelt noch geköpft, das muss man schon einmal lobend hervorheben (ob ich optimistisch genug bin zu glauben, dass das dann doch etwas mit der inhaltlichen Substanz der jüdischen Tradition zu tun hat, in der die Frauen immer immerhin einen gewissen Wert hatten, habe ich noch nicht entschieden). Aber man ist dann schon gleich ziemlich schmallippig geworden und hat einen maßregelnden Ton angeschlagen, den die Verfasserin dieses Beitrags zum Thema durch sarkastische Überbietung zu kontern versucht.

https://forward.com/schmooze/420031/orthodox-bride-haredi-wedding-drums-bnei-brak/

Als Außenstehende, die keine Position innerhalb dieser religiösen Kultur zu verteidigen hat, aber generell an der Frage nach den Rechten auch der liebenden Frau interessiert ist, darf ich hier ein bisschen weiter  fragen.

Was wird wohl auf diese kühne junge Braut warten? Die Statistik und das, was man in den Straßen von ultraorthodoxen Vierteln beobachten kann, ist da relativ klar: Sie wird ihr gesamtes fortpflanzungsfähiges Lebensalter als Trägerin schwerster Lasten verbringen. Sie wird ungefähr sieben Kinder zur Welt bringen, sie wird immer keusch und demütig gekleidet sein müssen, ihr natürliches Haar entweder durch ein Tichl (ein Tuch) oder einen Scheitel (eine Perücke) bedeckt, sie wird diejenige sein, die durch irgendeine Arbeit das Geld heranschafft, das die staatliche Unterstützung übersteigt, ihr Mann wird in irgendeiner Jeschiwa sitzen und lernen und sich seine kleinen Ventile suchen, während sie sich um die Kinder, die Arbeit, den Haushalt und den Zusammenhalt der Familie kümmert. Vermutlich hat sie ein relativ kraftvolles Temperament und wird innerhalb dieses Rahmens versuchen, sich ihre kleinen Freiräume zu erobern, sie wird sich vielleicht sagen, dass sie es eigentlich ist, die den Mann lenkt und den Laden schmeißt, sie wird dabei sein, wenn man sich um Arme in der Gemeinde kümmert, und sie wird dabei sein, wenn man darüber diskutiert, wie schlimm das Fehlverhalten dieser oder jener Frau, dieses oder jenes Mannes, dieses oder jenes Kindes unter talmudischen und menschlichen Gesichtspunkten zu beurteilen ist. Sie wird für die Siedlungspolitik sein oder dagegen, sie wird ein oder zwei ihrer sechs, sieben oder acht Kinder an die Verweltlichung verlieren, vielleicht wird einer ihrer Söhne oder auch ein zweiter zur Armee gehen, vielleicht wird sie, chas vechalila, eine lesbische Tochter haben, die entweder den Weg aus der charedischen Gemeinschaft ins Leben oder aber in Krankheit und Tod findet, und sie wird sie entweder auf ihrem Weg ins Leben ermuntern und gegen die autoritäre Meute der Gemeinschaft verteidigen oder sich mit dieser Meute gemein machen.

Ob sie, gesetzt, ein solcher Fall träte ein, die deviante Tochter verteidigt und unterstützt, oder ob sie sich mit denen gemein macht, die diese Tochter ins Verderben treiben – das hängt genau davon ab, woran sie ihr Herz mehr bindet: an das Wohl ihres geliebten Kindes oder an irgendwelche schrulligen Auslegungen irgendwelcher Sätze irgendeines Gottes, der durch Kinderschändung und Maßregelungen aller Art in seiner Autorität gestützt werden müsse. Es hängt also, kurz gesagt, nicht davon ab, ob sie „bedingungsloser Bindung“ als solcher fähig ist – eine Frage, die in sich, meiner bescheidenen Ansicht nach, immer schon falsch gestellt ist und ins nächste Verderben führt – sondern davon, woran und auch an wen sie sich bedingungslos bindet.

Der Mutter wird in allen Kulturen, die diesen Namen verdienen, allgemein zugestanden, sich an jedes einzelne ihrer Kinder bedingungslos zu binden. Dass das in der menschlichen Welt, in der wir natürlicherweise dank einer gewissen „Instinktschwäche“ oder eben der biologischen Offenheit unserer Lernhirne ziemlich viele Möglichkeiten haben, das sogenannte Natürliche eigenwillig auszulegen, umzuformen und verdrehend weiterzubilden, nicht immer verlässlich funktioniert, ist eine Sache. Dass auch die elegantest überformten menschlichen Kulturen hier eine gewisse Scheu vor den elementaren Notwendigkeiten des menschlichen Heranwachsens haben und sich regelmäßig erst dann selbst zu zerlegen beginnen, wenn sie auch dieses Elementare noch irgendeiner Planwirtschaft unterstellen wollen, ist ebenfalls keine besonders neue oder aufregende Erkenntnis: Platons Zuchtanstalten als Vorbild für alle möglichen späteren sozialen Experimente mit der kollektiven Kinderaufzucht waren, sobald man sie zu verwirklichen unternahm, immer schon der Beginn vom Ende der entsprechenden Gesellschaftsformationen, und wohl denen, die rechtzeitig selbst korrigierten, wie man es von der Kibbutzbewegung in Israel sagen kann. (Die Kinderhäuser, so sinnvoll die Gedanken gewesen sein mögen, die man bei ihrer Gründung erwogen hat, haben sich innerhalb der Kibbutzim von innen erledigt. Sobald die Menschen es etwas besser hatten, haben sie sich lieber wieder in Familien organisiert). Lassen wir es also hier der Kürze halber bei der Feststellung, dass das Löwenmutterwesen, die Bereitschaft der Mutter, auch mal furchtbar unvernünftig zu werden bei der Verteidigung ihrer Brut, letztlich doch fast in allen Kulturen und durchaus auch innerhalb der Religiösen Reaktion zugestanden wird. Insbesondere aber die Jiddische Mame ist derartig Kult, dass man kaum noch erwähnen muss, wie in der familiären Shabbatfeier die Frau auch im allerorthodoxesten Judentum noch ihre regelmäßige Ehrung erfährt.

(Lob der tüchtigen Hausfrau: http://www.judentum-projekt.de/religion/religioesegrundlagen/sabbat/)

Etwas Anderes freilich wird der Frau weder in der jüdischen noch in sonst irgendeiner konservativen (zu denen auch die konservativ sozialistische gehört) Tradition zugestanden: Dass sie nämlich für sich, also jenseits all ihrer wichtigen Funktionen für die Familie und die Gemeinschaft, etwas sei, etwas wolle, etwas könne und ein eigenes Licht verbreite oder gar, wiederum chas vechalila, von fremdem Licht beschienen werde. Einen eigenen Zugang zur Welt, zu Gott, zur Musik, zu sich selbst, den mussten viele viele Frauen in unendlich mühsamen Kämpfen auch all jenen Traditionen abtrotzen, die ihnen dergleichen inzwischen – mehr oder weniger zähneknirschend – zugestehen. Das gilt für das liberale Judentum, den Protestantismus, aber auch den Marathonlauf oder andere säkulare Dinge. Die Frau soll nicht selbst sein, und wenn schon, dann bitte in der Stille, dienend, denn leider haben wir ja psychologischerseits inzwischen herausgefunden, dass jemand, der ein bisschen was für sich selbst haben darf, dann meist seine sozialen Pflichten auch lieber erfüllt als jemand, der so alle Bedürfnisse wegdrückt und darüber dann entweder böse oder zum depressiven Pflegefall wird. Aber am besten wäre schon – das finden wir nicht nur in den Hochburgen der religiösen Reaktion, sondern auch in den mehr oder weniger platonischen des reinen Geistes (Freud hat uns da mit seinem „Fortschritt in der Geistigkeit manchen Floh ins Ohr gesetzt) – sie würde ihre eigenen Bedürfniss so weit sublimieren, dass sie wirklich und wahrhaftig in der Sorge für die ihr Anvertrauten ganz und gar aufgehen usw. Sie darf da ein wenig herumpfuschen und schummeln, solange sie noch wen unter sich hat, an dem „Schlimmeres“ zu korrigieren ist – aber eines darf sie ganz gewiss nie und nimmer wollen: selbst mit etwas glänzen, was sich nicht auf das Interesse der Besitzergruppe bezieht. Also zum Beispiel trommeln. Das darf sie nicht einmal dann, wenn sie es mit unbedingter Hingabe tut, aber gleichzeitig auch noch einen Menschen liebt (das Künstlertum macht zwar keine Mönche, aber schon öfter mal „Nonnen“).

Diese junge Frau aus Bnei Barak, von der ich konkret nichts weiß, der ich nur umso lieber von Herzen ein glückliches Leben in ihrer Familie und in ihrer Stadt wünsche, hat also auf ihrer Hochzeitsfeier, ausgerechnet, etwas getan, was an das schärfste Tabu rührt: sie hat sich in den Vordergrund gestellt mit einer Fähigkeit, die sie gar nicht haben dürfte. Allenfalls dürfte sie das doch ihrem Sohn dann beibringen, Kameras off.

Auf dem Video ist freilich noch mehr zu sehen, nämlich dass ein paar der jüngeren Verwandten begeistert dazu tanzen. Was für ein Phänomen, nicht wahr? Und wie immer sie weiter leben wird, wie immer sie sich entscheiden wird, wie ängstlich oder kühn, wie widerständig oder unterwürfig sie mit dem Tadel der Gemeinschaft umgehen wird: wenn sie dereinst, in 80 oder 100 Jahren, an ihr seliges Ende kommen wird, wird sie immer noch die Mutter, Großmutter, Tante, Schwägerin gewesen sein, die es gewagt hat, auf ihrer eigenen Hochzeit selbst zu trommeln. Das könnte immerhin ein Anfang sein.

Bindungsrhetorik III – Was erwartet die trommelnde Braut in Bnei Barak?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert