Jeder erwachsene Mensch, der schon einmal längerfristig geliebt hat, kennt es: Man liebt sich, man tut sich zusammen, alles ist schön. Irgendwann fällt dann auf, dass der geliebte Mensch uns zwar zu lieben scheint, aber daneben auch Augen für andere hat. In den strikt patriarchalischen Ursprungsmythen unseres Kulturkreises gibt es unterschiedliche Optionen für den Umgang mit diesem Problem. Ganz allgemein gilt in den archaischen Gesellschaften: Was den Männern erlaubt ist, ist den Frauen bei Todesstrafe verboten. Dadurch sind bereits die mythischen Frauen in ewige Rivalität um die Gunst der Männer gebannt – in den vorderasiatischen Kulten übernehmen die Männer die Rache an abtrünnigen Frauen, im griechischen Mythos versäumt die Göttermutter Hera und Hüterin des Herdes keine Gelegenheit, ihre Rivalinnen empfindlich zu strafen. Ihre Rache, mit der sie eine Rivalin nach der anderen eliminiert, ohne doch je der nächsten Kränkung entgehen zu können, geht stets auf elementare Fähigkeiten der menschlichen oder halbgöttlichen Gegnerin. Am sinnfälligsten dürfte das bei der Nymphe Echo sein, die sie um die Fähigkeit bringt, etwas Eigenes zu sagen. Du sollst nicht können, was ich kann.
Man kann diese Konstruktion der ewigen Rivalität feiern und behaupten, so sei nun einmal das Leben: Die Starken, die Götter, sind stärker als die Menschen, und quod licet Iovi, non licet Bovi (was Jupiter erlaubt ist, darf der Stier noch lange nicht): Zeus kann sich schließlich in einen Stier verwandeln, aber nicht jeder Stier kann sich in einen Göttervater zurück verwandeln. Das sei für alle gut, heißt es, denn Zeus verwandele nicht nur sich selbst, um die jeweiligen Ausersehenen zu erobern, sondern oft verwandelte er anschließend auch seine Gespielinnen, um sie vor der Rache seiner Gattin zu schützen. In ähnlichem, sozusagen „jovialen“ Geist haben über lange Jahrzehnte in der westlichen Welt die USA regiert. Neuerdings scheinen sie der damit verbundenen Abenteuer müde zu sein. Immer öfter agieren sie nicht wie Zeus (dessen Rolle, wenn man es ganz stark vereinfachen will, vom internationalen Kapital übernommen wurde), sondern allenfalls wie Hera: Die Bindung an die Übermacht halten sie bedingungslos fest – und damit das wanderlustige Kapital sich nicht woanders wohler fühlt als bei ihnen, müssen sie permanent versuchen, andere Staaten zu entmächtigen.
„America first“ – das ist nur noch die ängstliche Haltung der Hüterin des Herdes, die nie wagt, den Hausherren anzugreifen, mit dem sie ja in Gemeinschaft bleiben will, aber, da sie diese Gemeinschaft nicht exklusiv halten kann, sich gezwungen sieht, einen Rivalen nach dem anderen auszuschalten. Aber anders als im Mythos, in dem die Positionen klar festgelegt sind, wird man auf Erden damit rechnen müssen, dass der kapitale Zeus irgendwann von Hera genug hat – und dass eine geschicktere Rivalin das Kapital womöglich besser in ihren Dienst zu stellen und manipulativ zu lenken weiß.
Diese Rivalin wird freilich nicht Europa heißen. Die Europa des Mythos ist der Rache Heras auf ihrer abgelegenen Insel entgangen – vielleicht deswegen, weil sie nicht ganz in das Spiel des Zeus mit der Rivalität eingestiegen ist. Er ist der Vater ihrer drei Kinder, aber sie hat ihm nie die rückhaltlose Liebe gegeben, die er sich erhoffte. Nach dem Ende der Affäre heiratet sie erneut, einen irdischen König, der ihre Kinder adoptiert. Nennen wir Europas Kinder nicht Minos, Rhadamanthys und Sarpedon, sondern Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – so sind auch diese Kinder der Liaison Europas mit dem Kapital. Aber vielleicht hat Europa die Chance, ihr Leben nach der Heraisierung Amerikas, das längst mit neuen Rivalen beschäftigt ist, nun wirklich auf ihr eigenes Prinzip zu stellen: Solidarität. Solidarität ist gerade nicht die bedingungslose Bindung der Loyalität zwischen einem, der alles kann und darf, und anderen, die um seine Gunst rivalisieren. Solidarität kennt für die Bindung auch Bedingungen – und gründet also in der Einsicht, dass es allen besser geht, wenn es jedem einzelnen gut geht.