Eine nach wie vor gültige Beschreibung des Sündenbock-Mechanismus, also der kollektiven Gewalt der Vielen gegen einen zum Abschuss Freigegebenen, liefert René Girard. Sie wird heute oftmals unvollständig berufen, meist in der guten Absicht, Leute von der Suche nach Sündenböcken und Ausreden abzuhalten und an ihre Eigenverantwortung zu erinnern. Der Appell an die Eigenverantwortung kommt jedoch oftmals mit einem strikt römischen Element zusammen, das von Sallust in dem Bericht über die Verschwörung des Catilina auf einen Punkt gebracht worden ist, als welcher es fortan in tausenden von humanistisch gebildeten Texten und Reden auftrat: eines dieser Zitate, die jeder mal in den Mund genommen haben muss: „Imitari quam invidere bonis malebant“. Die guten „maiores“, die Vorfahren, die haben sich nicht gegen die Großen verschworen, und eroberte Völker haben sie nicht vernichtet. Vielmehr haben sie das, was ihnen gut erschien, nicht geneidet, sondern nachgemacht.
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Das liest sich ein bisschen wie das Rezept, mit dessen Hilfe etwa China trotz autoritärer Staatsführung seit einigen Jahrzehnten wirtschaftlich erfolgreicher zu werden scheint als die gute alte westliche Welt, die Kreativität zu fördern behauptet und das bloß Mimetische gegenüber dem wirklich Schöpferischen alleweil geringer schätzt. Und wegen seines Erfolges soll es durchaus bedacht werden – aber wenn wir es mit Girard bedenken, müssen wir klar sagen, dass nach Girard genau der mimetische Trieb selbst den Sündenbockmechanismus und das Opfer erst hervorbringt. Er schreibt:
„In der Welt des mimetischen Wunsches neigen alle Individuen dazu, sich gegenseitig, also sich selbst in eine Art Wüste zu verstoßen. Hat man diese geheime Verwandtschaft der individuellen Umstände und die überall dieselbe Vereinzelung hervorrufende Entfremdung einmal erkannt, versteht man ohne weiteres, dass der Hunger nach Gewalt wächst und schließlich, in dem Augenblick, wo die globale Tendenz zur Vereinheitlichung Stellvertretungen und mimetische Polarisierungen begünstigt, an irgendeinem beliebigen Opfer gestillt wird. Vielleicht auch an einem nicht ganz so beliebigen Opfer, das stärker im Rampenlicht steht und deshalb exponiert ist, an einem Opfer, das wegen seiner außergewöhnlichen Stellung innerhalb der Gemeinschaft gewissermaßen dazu prädestiniert ist … an Hiob.“ (Girard, Hiob – ein Weg aus der Gewalt, aus dem Französischen von Elisabeth Mainberg-Ruh, Zürich/ Düsseldorf 1990, S. 89)
https://www.eurobuch.com/buch/isbn/3545250709.html
Es ist also – nach Girard – genau der Wunsch nach Vereinheitlichung und der Wunsch, so zu sein wie…, der, notorisch unbefriedigend bleibend, selbst wenn dieses oder jenes Opfer längst besiegt ist, immer wieder Gewalt aus sich hervortreibt und die freie, auf Gewaltlosigkeit angewiesene Entfaltung des guten, selbstbildenden und weltgestaltenden Strebens und Schaffens gerade behindert.
Seit Jahren predigen kluge Menschen, die nicht nur ihren Girard, sondern auch anderes gelesen haben, deswegen unermüdlich ihre neuere Philosophie, die den je anderen ihr Anderssein gönnt und lässt und es an ihnen liebt als das, woran überhaupt erst ein Wunsch nach diesen anderen entstehen könnte. Und doch sind der Lärm des Mimetischen und der Opferküchen in aller Welt immer weiter angeschwollen. Auch die westliche Welt, in der als eine späte Blüte der religiösen Philosophien, der säkularen Philosophien und Künste und der Philosophien und Wissenschaften von den Religionen eben diese Lehre von der zu liebenden Andersheit der Anderen zu leuchten begann, ergibt sich längst wieder einem anschwellenden Einheitsdiskurs, der schöpferisch nur darin ist, dass er immer irgendeinen bösen Anderen finden muss, dessen Beseitigung den Frieden wieder herstellen wird.
Von dieser Art ist auch in der gegenwärtigen, von Religion und den ihr zugrunde liegenden psychologischen Mechanismen scheinbar doch völlig freien Nordkorea-Krise die mediokre Kritik sowohl an Trump als auch an Kim. Nordkorea ist Chinas Messerheld fürs Grobe – und der wird nur mit Messern werfen, solange das seine einzige Möglichkeit ist, sich für China nützlich und wichtig zu machen und auch dem ausbeuterischen, das Land klein haltenden Patron irgendeine Form von „Stärke“ zu zeigen, irgendeine eigene Grenze zu setzen. Und die Aufforderung an China, darauf damit zu antworten, dass es den Vasallen noch kürzer halten soll, ist definitiv eskalierend. Sie passt nur in eine einzige Logik: in die des Opfers. Deren Versprechen lautet: Wir alle werden uns besser verstehen, wenn wir „stand as one“ gegen den Oberschurken Kim. Und es ist sehr verführerisch. Die ungleichen Macht- und Ressourcenverteilungen werden leichter ertragen, solange man immer wen vor Augen hat, der auch an der Ungleichverteilung keinen Anteil hat, sondern einfach mal ganz draußen ist.
Dieser Mechanismus ist vollkommen unabhängig von dem, was ein einmal in diese Position geratener Akteur tut oder nicht tut. Wehrt er sich, müssen die anderen sich nur umso stärker zusammenschließen, bis sie ihn haben. Wehrt er sich nicht, kann er vielleicht als underdog überleben: muss dann aber irgendwann gegen das nächste Opfer mit ziehen, sonst wird er wieder selbst in die Position geraten. Dieses ist – für die religionsphilosophische Perspektive – übrigens die israelische Tragödie, die deswegen besonders schmerzhaft ist, weil wir der hebräischen Tradition die größten und ältesten Reflexionen auf den Sündenbockmechanismus überhaupt verdanken. Und übrigens, im Buch Hiob, auch die einzige Geschichte von einer wirklichen Wiederherstellung eines Opfers (victims) VOR seiner restlosen Vernichtung. Dort ist freilich nach wie vor nicht ausgemacht, wie es dem Staat, der nun schon seit 69 Jahren als eine Art hochgerüstetes, aber den Nachbarn verhasstes westliches Ghetto im Nahen Osten existiert, weiter ergehen wird. Und es ist zu hoffen, dass kluge und umsichtige Politik hier immer bessere Balancen finden wird.
Der Sündenbockmechanismus, den wir gegenüber dem jüdischen Volk nach der Shoah auch in breiteren Kreisen etwas intensiver studiert haben, sollte aber auch in anderen Kontexten nicht wieder eingeführt werden. Vielleicht wird man auch in der Nordkoreakrise erst weiter kommen, wenn man ihn reflektiert und verabschiedet. Wie das aussehen könnte? Dazu kann die Religionsphilosophin nur ganz grobe Linien skizzieren: 1. Der Wunsch Südkoreas nach „Wiedervereinigung“ sollte unerfüllt bleiben. Denn er liegt nicht im Interesse der regionalen Macht China. In dieser Hinsicht ist das alte deutsche Modell der Ostpolitik der Entspannung und gegenseitigen Anerkennung definitiv dem ohne Eroberungen nicht machbaren Wunsch nach Vereinigung vorzuziehen. 2. Nordkorea braucht eine Perspektive, die (mit oder ohne den korrupten Herrscherklan) dem Volk eine Öffnung ermöglichen könnte. Das erreicht man nicht durch Isolation, sondern durch bedingte Kooperation. Die Betonung liegt auf „bedingt“. Sanktionen ruinieren eine Volkswirtschaft nachhaltig. Sie bringen aber nicht unbedingt einen Regime-Change. Dieser ist auch von außen nicht anzustreben. Denn selbst wenn er militärisch oder durch Sanktionen erreicht wird, ist es kaum wahrscheinlich, dass auf dieses Regime eine demokratische Regierung folgen wird, die ihren Weg in der Welt erfolgreich gehen kann, ganz ohne Waffen usw. 3. Wie jede Verhandlung setzen Verhandlungen mit Nordkorea voraus, dass man auch dort berechtigte Interessen für möglich hält. Szenarien gegenseitiger Abschreckung durchbricht man nicht mit einseitiger Entwaffnung des wirtschaftlich Schwächsten. Wer diese offen anstrebt sagt nichts anderes als: ich will dich restlos unterwerfen. Es muss aber gerade von Seiten der Patronatsmächte (mit mehr oder weniger indirekter Unterstützung durch einen im wohlverstandenen Eigeninteresse wehrhaft bleibenden Westen) darauf hingearbeitet werden, dass Koreaner im Norden und im Süden der Halbinsel in ihren jeweiligen Staaten langfristig bessere Möglichkeiten bekommen, ihre Bodenschätze und ihr sogenanntes „Humankapital“ für die je eigene Bevölkerung zu nutzen. Nur das wäre ein überhaupt moralisch vertretbares politisches Ziel, auch wenn in der Politik dort so gut wie nichts sonst moralisch vertretbar ist (das ist es zum Beispiel in der Kooperation mit Saudi-Arabien auch nicht).
In der Welt der Staaten wird man Machtpolitik und gegenseitige Abschreckung nie vermeiden können. Sie sind nicht das Hindernis, sondern die Basis für vernünftige Politik von Deeskalation und bestmöglicher Kooperation zum größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl. In der Frage Koreas sind wir davon weit entfernt. Aber der Weg, diesen Gegner absolut klein zu kriegen, wird nicht besser enden als all die anderen „Siege“ gegen all die anderen Diktatoren, die in den vergangenen Jahren immer nur tiefer in Chaos und Krisen geführt haben. Es ist erstaunlicherweise übrigens wieder einmal Israel, von dem ein völlig anderer Ansatz zumindest in einer nahöstllichen Frage ausgeht: Israel bekräftigt, dass es einen kurdischen Staat, sollte es einen solchen geben, aktiv unterstützen und anerkennen würde. Damit ist die israelische Regierung nicht plötzlich zu einer Gemeinschaft der Heiligen geworden. Aber ein winziges Stück politische Klugheit spricht sich in diesem einen Schritt vielleicht ebenso aus wie ein winziges Stück Erinnerung an die eigene Sündenbock-Position: es könnte sein, dass dadurch ein neuer Freund in der Region die Isolation etwas ermäßigt. In ähnlicher Weise geriert sich Russland als letzter Freund Nordkoreas. Mir ist das weit weniger sympathisch als die israelische Solidarität mit Kurdistan, weil die russische und die nordkoreanische Regierung so sehr wenig mit Menschenrechten im Sinne haben. Aber es wäre töricht, hier Russland zur Ordnung rufen zu wollen. Wir müssen lernen, dass ebenso wie wir auch die anderen als starke Nachbarn bessere Nachbarn sind. Nur der Starke hat etwas zu verlieren. Wer nur noch seine Schwäche und seinen Ruin zu verlieren hat, wird nicht zwangsläufig leise weinend zugrunde gehen. Er könnte durchaus andere mitnehmen, wenn er kann. Das liegt in der Logik der Gegenwehr gegen den Sündenbockmechanismus, wie jeder primitive Amoklauf und seine Vorgeschichte offenbaren. Auch Staatengemeinschaften machen Sündenböcke. Auch Staatsregierungen machen Amokläufe. Auch bei Staaten kann man, wenn man rechtzeitig den Mechanismus unterbricht, manchmal etwas erreichen.