„Dass wir plötzlich Bittsteller waren…wir, die wir doch die friedliche Revolution erkämpft hatten … dass man uns plötzlich sagte, hört auf so anders zu sein… ihr lebt doch in der Vergangenheit … guckt doch jetzt mal nach vorne…“

Das sind nur wenige Parolenfetzen aus einem Feiertagsvormittag mit öffentlich rechtlichem Radio und eigenen Erinnerungen. Jahrestage sind eine gute Gelegenheit, etwas zu tun, was sonst immer öfter als „unproduktiv“ gilt: Zurückschauen. Alle, die damals halbwegs erwachsen waren, wissen noch, was sie taten und wo sie waren, als die Mauer „fiel“. „Zonenrandgebiete“ waren Ost und West bekannt, und wer auf der je anderen Seite Verwandte hatte, wusste immer ein bisschen mehr über die Stimmung als diejenigen, die keine solchen privaten Verbindungen hatten.

Ich lebte damals, 29-jährig, in Westberlin, studierte noch – wir konnten uns das in jenen Jahren leisten: unsere geisteswissenschaftlichen Studien in die Länge zu ziehen, wenn wir nebenbei arbeiteten und ab und zu familiäre Hilfe oder Stipendien in Anspruch nahmen. Mit dem Abschluss machte ich in jenen Jahren nur voran, weil ich schwanger und für die ökonomische Lage einer kleinen Familie verantwortlich war. Eigentlich war es aber in meiner persönlichen Umgebung verpönt, eine Karriere auch nur anzustreben. Reich und ehrgeizig, das waren – auch für uns westdeutschen (Bildungs-)Bürgerkinder – die anderen.

Rückblickend habe ich diese etwas fahrlässige Haltung manchmal bedauert. Andererseits: Vielleicht war dieses lange Studieren, dieses Bereitsein, jede Ansicht fünfzig mal um und um zu wenden und dafür halt (wie sich inzwischen zeigt, lebenslänglich) am unteren Rand des ökonomischen Spektrums zu leben, in Wahrheit der größte Luxus dieser Westberliner Existenz, genau richtige Mittelverwendung. Immerhin haben wir uns wirklich abgearbeitet am Versuch, weniger autoritär, weniger ökonomisch orientiert, weniger belastend für die Umwelt, und weniger festgelegt auf etwas, das wir Rollenverteilung nannten, zu leben.

 

Allerdings zeigte sich in meiner damaligen (seit mittlerweile 20 Jahren nicht mehr existierenden) Ehe genau in der Zeit, in der die „bürgerliche Welt“ von „Wiedervereinigung“ oder eben einer ganz neuen, unverdorbenen Einheit träumte, ein erster größerer Riss. Unzweifelhaft entstanden durch früh sichtbare Uneinigkeiten in fundamentalen Fragen (Details gehören nicht hierher) zog er sich gerade anlässlich der deutsch-deutschen Grenzöffnung nun durch von der Kinderfrage bis zur Herkunft. Zusammengefunden hatten wir uns während unseres Studiums der Judaistik wohl als kleinste Protestgemeinschaft: der Mann im Protest gegen ein katholisch-schwäbisch-berlin-grunewaldisches Elternhaus, in dem eine ökonomische Karriere durchaus erwünscht und vom Vater auch erreicht worden war, ich im Protest gegen ein protestantisch-mecklenburgisch-schleswig-holsteinisches Elternhaus, in dem eine von mir durchaus bejahte grün-linksliberale Haltung zur Welt zusammen kam mit einigen von mir nicht bejahten Vorstellungen von Lebensführung, welche Eleganz und Welt auszuschließen schienen. Als Paar waren wir in jenen Jahren auch ziemlich antireligiös: zuerst gegen die christliche Tradition, aber durchaus auch generell gegen zu viel Religiöses in anderen Kulturen (wir amüsierten uns gemeinsam über deutsche Christenkinder, die zum religiösen Judentum konvertierten, um der deutschen Geschichte zu entgehen). Damit „kitteten“ wir für ein paar Jahre, was nicht wirklich zu kitten war, und machten auf manche Leute einen guten Eindruck.

1989 spielten dann ausgerechnet die Kirchen in der Bewegung der Ostdeutschen eine große Rolle.  Und ausgerechnet unter unseren eher säkularen und, wie wir glaubten, eher linken Freund*innen waren viele, die den Traum von der Einheit träumen und nicht sehen wollten, wie sehr es doch einer „Übernahme“ glich, was da geschah. Nebenbei kündigte sich das Kind an, und wir hatten natürlich alle Hände voll damit zu tun, es nun auch alles wirklich richtig zu machen, trotz allem – von heute aus betrachtet mit erheblichem Illusionsaufwand. Wir zankten uns untereinander und gemeinsam mit den Freund*innen. Ich wollte hoffen, dass der Westen nicht zu dreist in seiner machtvollen Herablassung, der Osten nicht zu unerfahren oder begierig in seiner Bereitschaft, alles aufzunehmen, werden würde – der Mann war ziemlich sicher, dass es genau nur zu einer Übernahme kommen würde. Ich wollte, dass man den „Ossies“ nicht verübele, wenn sie nun erst mal ihr Verlangen nach „Rum and Coca Cola“ als Leitmotiv hatten, und ein Freund sagte gegen unsere gemeinsam vorgebrachten Warnungen, er wolle einfach auch mal zu etwas „ja“ sagen.

Das hat mich damals wirklich überrascht. Überhaupt habe ich mich über viele Konservatismen gewundert, zuletzt auch über das Aufkommen der „Ostalgie“, der ich zum ersten Mal massiv begegnete, als ich lehrend an einer Fortbildung von LER-Lehrer*innen teilnahm. Die Lehrer*innen fanden die westlichen Schulgebräuche zu lax und fühlten sich hilflos, weil sie keine Kontrollmittel in der Hand hatten! Und wir sollten ihnen unser „Integriert euch!“ entgegenwerfen. Es war bizarr. Einen halbwegs menschlichen Zugang zu ihnen bekam ich nur, indem ich mich in den Pausen an jeden Gruppentisch einmal mit setzte und über die Erfahrungen mit kleinen Kindern sprach. Es war ihnen nämlich aufgefallen, dass lehrende Frauen im Westen oft keine Kinder hatten – und das fanden sie, wie ich fand, mit Recht, komisch. Im übrigen hat mir bereits damals, in den ganz frühen neunziger Jahren, das, was ich als eine schamlose Bejahung autoritärer Erziehungsstile und Überwachungsgewohnheiten empfand, ein schwer unterdrückbares Grauen verursacht. Natürlich habe ich dann später auch ganz andere Leute kennengelernt. Unglaublich nette dabei, übrigens besonders aus kirchlichen Kreisen, beider Konfessionen.

Und heute, 29 Jahre später, höre ich nicht ohne eine gewisse Freude manche junge Stimme aus dem ehemaligen Osten. Wie kraftvoll und selbstbewusst sie sich artikulieren, denke ich, und rufe mich zurück: wie unerträglich „matronizing“, was ich da denke, warum sollten sie sich denn nicht so artikulieren? Weil, antworte ich mir, weil ich sie eben noch ansehe als wären sie wie die Leute aus meiner Generation zur Wendezeit: aufgeteilt in brave und protestfähige Menschen (und wir protestfähigen sind natürlich alleweil die besseren), aber eben auch aufgeteilt in Ostdeutsche und Westdeutsche. Wer im Osten protestfähig war, musste ein bisschen mehr Widerstandskraft und Leidensbereitschaft aufbringen als wer im Westen protestfähig war, und wer im Osten brav war, hatte andere Weisen, sich nach „unten“ abzureagieren als wer im Westen seine Karriere verfolgte. Kein Grund, „matronizing“ zu reden, aber vielleicht ein bisschen verständlich angesichts meiner Erfahrung mit den „Ostlehrer*innen“ der frühen Neunziger.

Die Menschen jedoch, die heute so junge Erwachsene sind wie wir es damals waren, Menschen im Alter meiner inzwischen erwachsenen Kinder, sind aber unter trotz aller Unterschiede doch ziemlich vereinheitlichten Bedingungen aufgewachsen. Und die, die es familiär gut genug getroffen haben und schulisch gut durchgekommen sind, die gehen nun einfach auf allen Seiten der ehemaligen Grenze ihren eigenen Weg als junge Deutsche. Als solche wollen sie die Zuschreibungen der Vergangenheit natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Gut so. Auch unter ihnen sind wieder viele, die Karriere machen, viele, die es damit nicht ganz so eilig haben und lieber in sich noch was durcharbeiten wollen. Gut so. Wir hatten inzwischen schon Zeiten, in denen zwei ostdeutsche Protestanten die Staatsspitze der vereinigten Republik bildeten. Gut so.

Also Grund, die Einheit oder die „Einigkeit“ zu feiern? Schon dagegen sprechen die neuen Forschungen, nach denen „Ostdeutsche“, auch wenn sie die DDR gar nicht mehr kennengelernt haben, sich stigmatisiert fühlen.  Dagegen spricht auch meine kleine hier ausgebreitete Selbstreflexion, in der ich mich dabei erwische, trotz besten Willens auf „Ostdeutsche“ herabzugucken. Wenn schon ich, die sich Einhalt gebieten kann und hauptberuflich Leute in Ost und West fragt, wie es ihnen geht, solche Gewohnheiten an mir finde, wie oft wird es bei anderen, die sich weniger Zeit für die Reflexion nehmen, aussehen? Und dagegen spricht ferner, dass überall da, wo Einigkeit und Einheit überbetont werden, jede*r ahnt, dass es damit wohl nicht weit her sein kann: sie werden in erhöhtem Maße zum Problem. Das gilt für private und öffentliche Verhältnisse gleichermaßen: wo ich nur noch nach dem „Zusammenhalt“ suche, habe ich vermutlich Angst, dass er abwesend sein könnte (oder gehe von einer schon gegebenen, tendenziell unüberbrückbaren Differenz aus, die ich, je mehr ich sie unbedingt überbrücken will, nur immer weiter vertiefe).

Und ich traue den Einzelnen nichts mehr zu – weder dem Einzelnen, mit dem ich vielleicht gerade lebe, obwohl ich schon wegstrebe, noch den anderen, mit denen ich eine Einheit bilden soll, obwohl sie mir tief fremd sind. Im Fall einer Ehe kann das bestenfalls zu einer schiedlich-friedlichen Trennung führen. Später sagt man vielleicht, wie ich es von meiner damaligen Ehe sage: „Ich bin glücklich geschieden“. Es kann ja sein, dass es mit wem anders noch mal besser geht. Das Modell der glücklichen Scheidung wird auch von Staaten, die sich aus Gemeinschaften lösen wollen (UK, Katalonien etc.) oder für Völker, die miteinander in unsterblichen Gebietskonflikten verhakt sind (Israel und Palästina) empfohlen, nämlich als ein sinnvolles Mittel zur Schadensbegrenzung. Bündnispartner haben die Betroffenen meist längst woanders. Wer in diesen Situationen mit Vereinigungsdruck käme, machte alles nur schlimmer. Einigkeit: das ist in solchen Fällen bestenfalls (und das kann ein guter Fall sein!) Einigkeit darüber, dass es gemeinsam nicht weiter geht, sein.

Aber was macht man, wenn Verschiedene in einem Gemeinwesen leben wollen, das sie alle als „ihres“ empfinden und prinzipiell mit den anderen zwar fair teilen, ihnen aber nicht grundsätzlich streitig machen wollen? Müssen wir da dann ewig um Dominanz und Vormacht, um die Frage, wer wen im Interesse der Einheit zu integrieren habe, streiten?

Vielleicht ist es für die Verhältnisse in Deutschland mittlerweile an der  Zeit, den Focus mal auf die beiden anderen Großwörter zu verlegen, mit denen die Nationalhymne beginnt. „Recht“ und „Freiheit“ nämlich. Warum?

Recht regelt genau die Einigung in der Uneinigkeit. Wo die Sehnsucht nach Einheit in einer festen Gruppe letzten Endes die verschiedenen Gruppen gegeneinander aufbringt: Wenn die Aufmärsche von Rechtskonservativen und die antifaschistischen Gegendemonstranten aneinander geraten, wenn konservative Deutschtürken in Scharen auf die Straße gehen, um „ihren Präsidenten“ in Deutschland zu feiern, wenn strukturell „identitäre“ Bewegungen aus dem LGBT-Bereich in Gewalt- und Rachephantasien gegen ihre manifest homophoben Gegner schwelgen und umgekehrt. Gegen die Sehnsucht nach Gemeinschaft ist wenig zu sagen – solange man ihretwegen nicht das tut, was Gemeinschaften mit Grund in allen wissenschaftlichen und literarischen Betrachtungen nachgesagt wird: sich die Rechte derer, die nicht dazugehören, egal sein zu lassen. Das Recht ist mit den Einzelnen befasst und begrenzt die Macht des Staates gegenüber den einzelnen Bürger*innen. Postmoderne Sorge um die „konnektiven Strukturen“ (Jan Assmann) hat  Kulturen und Religionendie eine individualistische Moderne eher zum Alteisen legen wollte, weltweit und auch in Deutschland eine neue Legitimation verliehen. Es wird Zeit, dass man gegenüber diesen partikularen Gemeinschaften, die die Rechte der Einzelnen oftmals stärker beschneiden als der liberale Staat, das Recht wieder betont. So wird man automatisch die individuellen Unterschiede innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen wieder besser in den Blick bekommen.

Und Freiheit? Die ist der Bezugspunkt für das Recht. Sie ist im Einigungsprozess vielleicht am stärksten unter die Räder gekommen. Nach der großen Euphorie des „geöffneten Käfigs“ wurde deutlich, was der Preis der Freiheit zu sein schien: Da gab es im Westen, aber vor allem auch im Osten viele, die wirklich einfach liegengeblieben sind. Da waren viele in der Generation, die inzwischen alt ist und ihre kleineren und größeren Arbeitsplätze längst verlassen hat: Leute, die im Osten große Karrieren hatten und aus diesem Grund im vereinigten Deutschland keine Karriere mehr machen konnten. Sie haben aber an ihre Kinder, wie es so geht, egal, wie richtig wir es alle mit der Erziehung immer machen wollen, viel von ihren Gefühlen weiter gegeben. Zwar ist – Gott sei Dank – die Beschönigung von Gewalt in der Erziehung und von autoritären Erziehungsstilen landesweit zurückgegangen. Aber nicht nur gibt es nach wie vor auch in der jüngeren Generation viele Leute mit Gewaltbiographien und wenigstens subjektiv empfundener Vernachlässigungsgeschichte – Leute, die sich emotional nur halbwegs stabil fühlen, wenn sie in wütenden Gruppen umherziehen und auf andere schimpfen können.

So weit der „subjektive Faktor“, die „gefühlten Verhältnisse“. Es gibt aber auch sozusagen objektiv und in Zahlen ausdrückbar ein paar Unsicherheiten, die im weltweit sich verbreitenden Neoliberalismus aus der proklamierten Freiheit für eine Mehrzahl von Menschen vor allem Freiheit zur Not machen, oder, wie es zur Zeit der westdeutschen Linken hieß: freie Füchse dürfen in freien Hühnerställen zwischen verschiedenen Beutestücken wählen. Da würde das Plädoyer für  Einheit die Richtigen zusammen sperren. Wer auf der Beuteseite wäre, hätte keine wirkliche Wahl. Wer nicht mehr Beute sein wollte, müsste Fuchs werden. So ähnlich haben übrigens damals, 1989 und in den Folgejahren, viele Ostdeutsche, mit denen ich sprach, geredet: und gedacht, sie machen es richtig, wenn sie sich einen ellenbogenintensiven Durchsetzungsstil westlicher Prägung angewöhnten. So von der Art, die „wir hier“ eher ablehnten, denn: das mit den freien Füchsen in freien Hühnerställen war ja natürlich mit Freiheit so, wie die Aufklärung sie verstanden hat, nie gemeint gewesen. Über die von Politiker*innen beider Herkünfte angestrebte Lösung der Konflikte durch eine gute Rechtsordnung habe ich immer öfter etwas wie Freude empfunden. Aber dann kamen die Unwuchten und Störungen der anderen Art – und etwas ist richtig aus dem Ruder gelaufen. Was war das nur? Müssen wir wirklich jetzt wieder Gruppe gegen Gruppe aufmarschieren lassen – mit nichts als dem hilflosen Blick auf die Durchgeknallten, die nicht die realen Probleme lösen, sondern eine große Explosion, eine europaweite konservative Revolution oder eine völlige Auflösung staatlicher Strukturen wollen?

Ich habe keine Antwort. Aber mir scheint, wir müssen innerhalb Deutschlands und Europas, mit Migrant*innen und Handelspartner*innen in der Welt wieder viel mehr über Recht und Freiheit diskutieren als über die im Grunde elende Frage nach den Identitäten und darüber, wen wir integrieren müssen und wer sich integrieren muss, oder wie wir noch enger zusammen halten und irgendwelche Spaltungen vermeiden können.

 

 

 

Einigkeit? Recht? Freiheit?

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