Wer in dem aufgeheizten Klima der gegenwärtigen Debatten in Deutschland auch publizistisch einen guten Job machen möchte, wer nicht Öl in irgendein Feuer gießen und gern auch nicht durch irgendeine falsche Äußerung selbst ein Raub der Flammen werden möchte, könnte zur Zeit geneigt sein, sich vor allem zurück zu halten. Insbesondere in den vielgescholtenen „sozialen Medien“ kann man mit so ziemlich jeder Äußerung außer vielleicht einer Empfehlung für einen Opernbesuch die verrücktesten Reaktionen auslösen.
Allerdings: auch wer sich zurückhält, darf sich nicht zu sicher sein, damit nun das Richtige zu tun und sozusagen ruhig durch die stürmischen Seen dieser Medien zu segeln. Wer in Auseinandersetzungen „bei sich bleibt“, wie es der Mediator noch stets empfehlen würde, muss damit rechnen, als jemand verschrien zu werden, der „um sich selbst kreise“ und sich nicht um die Welt kümmere. Wer hingegen leidenschaftlich für diese oder jene Sache streitet und durchaus auch mal genauer hinsieht, was bei den anderen los ist, kann leicht in den Verdacht geraten, sich überall einzumischen und irgendwie nicht ganz in seinem eigenen persönlichen Sein zu ruhen. Übt jemand gar Kritik am simpelsten Fetisch der Gegenwart, dem „Zusammenhalt“ als solchem (also egal, wer mit wem und wozu, Hauptsache zusammen?), ist der Vorwurf der Spalterei unausweichlich. Im Namen des jeweiligen Zusammenhalts nährt so ziemlich jede politische Richtung an ihren Rändern und wohl auch in ihrer Mitte schnell entflammbare Empörungsgemeinschaften, die doch ihrer je eigenen Sache so unsicher sind, dass sie jeden, der sich nicht in der für sie typischen Weise mit empört, belauert und bei nächster Gelegenheit angreift. Denn irgendwie ist es so, als hätte es gewisse Fortschritte in der Kultur und also auch in der Kommunikationskultur – also zum Beispiel die Einsicht, dass „du-du-du“ und „immer-willst-du-nur“-Sätze selten zielführend sind – nie gegeben.
Und das gilt für alle Seiten. Ich erinnere mich manchmal noch mit traurigem Lächeln an Michelle Obamas Ankündigung: „If they go low, we go even higher“ – womit sie (auch) meinte, dass die Demokrat*innen auf miese und schmutzige Anschuldigungen und Campagnen mit nur umso entschlossenerem Festhalten an Respekt und Achtung als Basis aller Kommunikation reagieren würden.
Viel übrig ist davon wohl nicht mehr. Auch bei „uns“, den liberaleren Demokrat*innen, nicht. Menschen, die sich gewohnheits- und routinemäßig über Body-Shaming oder die Stigmatisierung wegen dieser oder jener gepflegten seelischen Disorder als einen verfehlten Umgang mit „Diversity“ beklagen, scheuen sich nicht, den amerikanischen Präsidenten und seine Frau mit allen Arten von entfesseltem Voyeurismus, psychomoralischem Geplapper über „Reifegrade“ zu überziehen und wirklich hasserfüllte „Anti-Hass-Reden“ und Verdächtigungen gegen alle möglichen Leute auszustoßen. Spätestens seit den diversen Entgleisungen des mit Grund ungeliebten Präsidenten ist jeder noch so übel gescheiterte Demokrat ein Experte in Psychologie und weiß, was mit dem Mann im Weißen Haus los ist, spätestens seit klar ist, dass es trotz der allgemeinen Übereinstimmung in der Abneigung gegen den Mann kein Amtsenthebungsverfahren geben wird, nimmt die linksliberale Mehrheit Zuflucht bei der Feststellung einer „Einigkeit“ und „Geschlossenheit“, die sie zumindest in eben ihrem psychomoralischen Urteil über den US-Präsidenten haben und nun dann auch nach Kräften genießen können.
Cuomo: 'I think we hit bottom'
Chris Cuomo: "Many are saying that this is a day that will live in infamy… and that's true.I think we hit bottom. If so, there is a blessing in that because there can be no more debate about which way is up" https://cnn.it/2mm9zLi
Gepostet von Cuomo Prime Time am Montag, 16. Juli 2018
Das hat ihnen also gefehlt? Einheit? Einigkeit? Geschlossenheit? Gegen einen gemeinsamen Feind? So simpel ist das wohl. Die Gegenprobe bestätigt es nur: inzwischen macht sich jeder, der nicht schlimme Sachen über Trump oder wen auch immer sagt, bereits des stillen Einverständnisses verdächtig. Wer einfach einer seit Jahren durchgehaltenen, relativ protestantischen und psychoanalytisch reflektierten Auffassung treu bleibt, die da besagt, dass man die Politik des Präsidenten kritisiere, aber sich auch weiterhin in Sachen Psychologie überall da zurückhalte, wo nicht die eigene Seele oder ein sehr konkretes Problem, das einem in einem sehr bestimmten Setting vorgetragen wird, betroffen ist – der „verteidigt die Falschen“ und übt „Zurückhaltung an der falschen Stelle.“ Ich kann diesen Zwang zur aktiven Schmähung nicht intelligenter finden als den auf der rechten Seite geübten Zwang, Obama immer wieder als „Moslem“ zu bezeichnen, Zweifel an der ursprünglichen Weiblichkeit seiner Frau zu formulieren und generell zu behaupten, dass das Kopftuch, egal, wer es wie trägt, unsere abendländischen Werte untergrabe. Das Minimum an Achtung gegenüber dem anderen – wir schulden es zuerst uns selbst: und eben darum dann auch islamistischen „Gesprächspartnern“ in Teheran und anderswo, und eben darum auch unseren „eigenen“ Rechten. Das lehrt jedenfalls jede Philosophie der Freiheit. Aber in Zeiten der allgemeinen „Frontbegradigungen“ sagt man das besser nicht mehr so laut?
Tatsächlich beschränken sich diese Bekenntniszwänge, in denen du auf einen gemeinsamen Feind einschlagen musst, wenn du nicht selbst verprügelt werden willst, schon lange nicht mehr auf die sozialen Medien. Ich höre das in der einen oder anderen Richtung auf so ziemlich jeder Party, in jedem Pausengespräch irgendeiner Musik- oder Opern- oder Theateraufführung, und ich nehme mit Bedauern zur Kenntnis, dass die sogenannten Leitmedien, deren solide Arbeit ich nach wie vor schätze, immer wieder mal den entsprechenden Einlassungen große Aufmerksamkeit widmen: in einer Sendezeit, in der ich eigentlich lieber darüber hören wurde, wie die Lage in Algerien nun wirklich ist, welche Maßnahmen gegen die Feuer in Südisrael getroffen werden, was gerade getan wird, um politische Gefangene aus türkischen, russischen, nicaraguanischen und iranischen sowie saudischen Gefängnissen zu holen, und wie die Statistik über FGM sich in diesem Jahr nach der „Cutting Season“ verhält.
Nun mache ich es selbst mit? So scheint es. Aber ich möchte eigentlich auf mehr als nur das allgemeine Lamento über den Verfall der Kommunikationskultur hinaus: Weil ich gestern in der Tagesschau mal wieder gestolpert bin. Nicht so sehr über den üblichen Bericht über irgendwas, das Trump wieder gesagt hat und das alle empört oder keiner glaubt, sondern weil da noch etwas anderes war, das auch eine harte Verlustmeldung ist: Mitarbeiter*innen der TU haben anhand zahlreicher Texte in den sozialen Medien untersucht, wie viel Antisemitismus sich da real findet. Und ein Ergebnis ist, dass sich in den Kommentaren zu Beiträgen aus den Leitmedien nicht mehr, wie noch 2007, „nur“ 17,5% im streng antisemitischen Bereich bewegen, sondern mehr als 30%.
https://www.tagesschau.de/inland/antisemitismus-studie-103.html
Josef Schuster wurde dazu gezeigt – und er äußerte die nur allzu verständlichen Befürchtung, dass „aus Worten Taten werden“.
Hier mache ich einen Schnitt und blende 138 zurück.
In seinem berühmten „Bekenntnis in der Judenfrage“ im Jahr 1880 reagierte der erste jüdische Ordinarius für Philosophie, der an einer deutschen Universität lehrte, der Neukantianer Hermann Cohen, auf die Ausfälle des Historikers Heinrich von Treitschke, der öffentlich gesagte hatte: „Die Juden sind unser Unglück“. Der Text eröffnet wie folgt:
„Es ist also doch wieder dahin gekommen, daß wir bekennen müssen. Wir Jüngeren hatten wohl hoffen dürfen, daß es uns allmählich gelingen würde, in die >Nation Kants< uns einzuleben; daß die vorhandenen Differenzen unter der grundsätzlichen Hilfe einer sittlichen Politik und der dem Einzelnen so nahe gelegten historischen Besinnung sich auszugleichen fortfahren würden; daß es mit der Zeit möglich werden würde, mit unbefangenem Ausdruck die vaterländische Liebe in uns reden zu lassen, und das Bewußtsein des Stolzes, an Aufgaben der Nation ebenbürtig mitwirken zu dürfen. Dieses Vertrauen ist uns gebrochen; die alte Beklommenheit wird wieder geweckt.“ Was für Taten 60 Jahre später aus den von Cohen so bedauernd zur Kenntnis genommenen Worten wurden, ist bekannt. Allerdings: lassen sich die Verhältnisse einfach so übertragen? Waren es die Worte von 1880, aus denen 1940 Taten folgten? Gewiss ist: wir tun gut daran, ernst zu nehmen, was jemand glaubt, öffentlich sagen zu dürfen – oder sogar, sagen zu müssen. Wir tun gut daran, wie Cohen gleichzeitig am Streben nach, wie er sich ausdrückte, mehr „Sittlichkeit“ im kantischen Sinne zu bleiben, und pragmatischerweise nicht zu ignorieren, dass sich nicht alle Menschen dieses Streben zu eigen machen. Es ist aber heute, dank der Veralltäglichung des Psychologismus, zu einem Problem gekommen, das weder Cohen noch die wenigen versprengten Gegner*innen des deutschen Antisemitismus in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts sich ausmalen konnten. Und es hat mit dem Bekenntniszwang der neueren Art zu tun. Immer wieder höre ich die Menschen, die es wirklich gut meinen, Dinge sagen, die mir die Tränen in die Augen treiben könnten. Sie reden „gegen die Gier“, „gegen den Hass“, „für mehr Menschlichkeit“ usw. Und sie denken, dass sie damit das von Cohen, dem alten „ethischen Sozialisten“, so sehnsüchtig herbeigeschriebene Streben nach Sittlichkeit vorantreiben. Aber tun sie das wirklich? Was tut denn jemand, wenn er versucht, Freund und Feind „hinter die Maske“ zu schauen, seine Motive zu erkennen, diese ans Licht zu ziehen und zu blamieren oder zu kurieren? Natürlich tut er es in dem Bemühen, „Freund und Feind zu unterscheiden“. (Und mit diesem „links-schmittianischen“ Politikverständnis sind ja nun auch alle gegen Trump losgezogen). Aber er neigt dabei zu Grenzüberschreitungen, die er sich mit Recht verbitten würde, wenn sie ihn trägen. Tatsächlich: Dass man sich heute allseits für berechtigt hält, den anderen mit allen Mitteln (von denen wir heute eine Menge mehr zur Verfügung haben als die Leute zu Cohens Zeiten) „hinter die Maske zu schauen“, ist ein Problem, das eine neue ethische Antwort braucht. Und erstaunlicherweise lässt sich jedenfalls eine mögliche sittliche Antwort ausgerechnet bei Cohen finden: Denn dieser wusste noch, was Gesinnungsprüfungen für die Geprüften bedeuten. Im berüchtigten Fenner-Prozess in Marburg 1888, in dem Cohen ein Gutachten über den Talmud schreiben musste, war er es, „who went high“, während sein Gegner und Gegengutachter, Paul de Lagarde „went low“. Die Unterstellung niederer Motive war bei allen Diffamierungen anderer, und selbstverständlich auch bei der Diffamierung der jüdischen Minderheit und ihrer kulturellen Traditionen, das Mittel der Wahl gewesen. Und man hätte lange suchen müssen, um unter jüdischen Intellektuellen der Zeit so viel Zustimmung zu Gesinnungserforschungen zu finden, wie wir sie heute in unseren Gesinnungsbeurteilungen und küchenpsychologischen Begutachtungen von anderen ziemlich enthemmt gebrauchen. Lagarde schloss aus dem bisschen, was er vom Talmud wusste, dass die Juden geldgierig seien, die Menschen, die ihrem Volk nicht angehörten, skrupellos betrügen würden, und wenn sie es nicht direkt hinschrieben, so sei der Geist doch klar, und so weiter. Wer nicht als Betroffener, sondern aus Gründen der allgemeinsten Menschlichkeit für Gastfreundschaft gegenüber Flüchtlingen, gegen Antisemitismus und für die demokratischen Institutionen sowie gegen alle Versuche, sie durch autoritäre Regimes zu ersetzen eintreten möchte: der oder die sollte sich vielleicht auch heute noch allen Gesinnungsgeredes und aller Versuche, an den Seelen und den Motiven und dem Unbewussten der anderen herumzubasteln, tunlichst enthalten - egal, um wen es geht und um was es sich im übrigen handelt. Zivilisierte Umgangsformen sublimieren die Sehnsucht nach absoluten Konsensen, denn sie verdanken sich einer gebildeten Selbstreflexion. Diese weiß aus aller Geschichte in aller Welt, dass der absolute Zusammenhalt im Angesicht eines Feindes früher oder später immer durch ein grausiges Opfer erkauft war, spätestens, wenn der „äußere Feind“ besiegt schien - zumeist schon vorher und unabhängig davon. Die aufgeklärten Gesellschaften haben sich deswegen bewusst mit einer Einigung über den ordentlichen Umgang mit verschiedenen Ansichten beschieden. Erst wenn dieser kleine Konsens kippt, weil der große Konsens so viel verlockender ist, egal, auf wen dann eingeprügelt werden muss, damit er auch hält: dann haben die Autoritären wirklich gewonnen. Und darum ist es heute doch wieder dahin gekommen, dass wir bekennen müssen. Aber keineswegs müssen wir uns als „gute Menschen“ bekennen, indem wir möglichst oft das Wort „Menschlichkeit“ aussprechen und so tun, als gäbe es kein faktisches Problem mit denjenigen Migrationsbewegungen aus verarmten und gescheiterten Staaten, die von uns zu beantworten und teils auch zu verantworten sind. Erst recht nicht müssen wir uns als gute Menschen bekennen, indem wir gemeinsam auf die Leute los gehen, die nun wirklich irgendwie unmöglich sind. Wir müssen nicht der Beate Zschäpe, von der wir nach wie vor nicht wissen, wie viel sie wusste und getan hat, die Pest an den Hals wünschen und es normal finden, dass ihr immer noch nazitreuer Mittäter Wohlleben, dessen Taten aktenkundig sind, schon wieder in Freiheit ist. Wir müssen auch nicht allen, die einen gewissen Sinn von Grenzen nach wie vor behaupten, generell Unmenschlichkeit unterstellen, oder allen jungen muslimischen Männern Vergewaltigungsabsichten.
Wir müssen einfach nur damit aufhören zu glauben, dass es uns gut macht, auf andere, auf „Schlechte“ einzuprügeln. Und wir müssen uns dazu bekennen, dass jeder, der sich öffentlich verantwortlich äußert, privat das Recht hat, mit seinen sicher nicht ausbleibenden negativen Gefühlen so umzugehen, wie er es für passend hält, ohne dass wir ihm mit den Kohlbergtabellen der persönlichen moralischen Reife und anderen zeitgenössischen Inquisitionsmitteln hinterhersteigen, um herauszufinden, ob nicht doch irgendwas an ihm grundsätzlich falsch ist.
Farbe bekennen ist doch so falsch auch nicht. Solange sie nicht nur weiß und schwarz ist darf sie auch gewechselt werdeb.
Wie schon so oft stimmen mich die Texte von Frau Palmer sehr nachdenklich.