Diese Perspektive auf den an sich in meinen Augen eher langweiligen „segnenden Christus“ traf mich dann doch. Nach vorne segnet er. Seit 1993 vor der Gethsemane-Kirche am Prenzlauer Berg. Irgendwie ungeheuer oben, wenn man von der Straße guckt. Er sieht ein bisschen so aus, wie sich das kreuzbrave 19. Jahrhundert eben einen segnenden Christus vorgestellt hat. Langes Gewand, lange Haare, ein mildes, geduldiges Gesicht, kein Schmerz, keine Angst, reine Gelassenheit, Heiligkeit, sowas. Ein freundlicher Weisheitslehrer, der niemandem wehtut, ist ja okay, und wäre noch besser, wenn das Christentum nicht selbst so eine schmerzhafte Geschichte wäre und hätte.

 

Wer mit diesen Figuren aufgewachsen ist, mit all den Predigten dazu, den freundlichen Erklärungen, den strengeren Durchsetzungen dessen, was heute so lapidar „christliche Werte“ genannt wird und bei vielen wieder was gilt – der hatte natürlich auch bald drauf, dahinter zu gucken. Denn ohne das hätte man ja keine Chance gehabt. Und hier? Die Gethsemanekirche wurde den Bürgerinnen und Bürgern in der Nachbarschaft erst wieder interessant, als sie zum Zentrum der friedlichen Revolution wurde. Als Leute dort standen und bangten und warteten und beteten und Protestfahnen aufhängten, auf denen stand: Wachet und betet für die zu Unrecht Inhaftierten. Danach flaute das Interesse wieder ab. Aber die Kirche wurde als Immobilie wieder hergestellt, und die große Anzahl der Konfirmand*innen ist beeindruckend.

 

Heute also haben sie diese Figur bei sich. Die Kirche ist von innen schon sehr schön renoviert, hier zu sehen: die Kaiserloge, sozusagen in der „Bel Etage“.

 

Im Kircheninnern ist auch ein knieender Christus von Wilhelm Groß zu sehen – in einer Haltung, die nur der geübte Yogi einigermaßen zustandebringt (ich habe es probiert).

Nun sind sie dabei, die „Außenhaut“ zu renovieren.

 

So haben sie mir die interessante Perspektive auf den Christus beschert: von hinten, wo Gerüststangen hinter seinem Kopf ein bemerkenswertes Muster bilden, Zufalls- und Gebrauchssymbolik: Die drei Streben bilden ein äußerst realistisches Kreuz hinter dem Rücken dieses heiligen Gelassenen. Wer sie sieht, sieht auch die Wetterfahne auf dem Türmchen von dem Eckhaus gegenüber. Nicht wahr? Sie ahnen es schon. Wäre ich eine ordentliche protestantische Predigerin, die ihre Kirche aufrütteln wollte, könnte ich versucht sein zu sagen: ha, ihr renoviert die Außenhaut eurer alten Kaiserprotzkirche, gestiftet von Kirchengustl, wie sie genannt wurde, die Kaiserin, und damit macht ihr hinterrücks dem segnenden Jesus ein neues Kreuz, sperrt ihn aus, passt euch an an die satten Prenzlberger Neubürger, die ein christliches Sahnehäubchen und eine Gesinnungsrolex für ihre privilegierten Bürgerkinder brauchen usw.

 

Aber ich bin ja keine ordentliche protestantische Predigerin, und nichts läge mir ferner, als denen, die in diesem veränderten Stadtviertel etwas wie einen ziemlich korrekten Bürgersinn feiern und weitergeben, ihren Segen zu missgönnen. Zugleich gebe ich zu – es gefällt mir, wenn so ganz aus Versehen ein Bild zustande kommt, an dem man noch erkennen kann, was zum Beispiel Rene Girard am Christentum stark zu machen versuchte: den Versuch, den menschlichen Hang zur Aussonderung eines Erwählten zum Menschenopfer, ein für allemal zu überwinden.

Meine Ansicht dazu ist: jede halbwegs vernünftige Ethik versucht das – keine noch so tiefsinnige Lehre kann das. Immer laufen alle möglichen geraden Gedanken hinter dem Rücken der Denkenden zusammen und kreuzen sich in dem Punkt, an dem wir uns schließlich doch entscheiden, diesmal das Opfern ausnahmsweise richtig zu finden. Dann brauchen wir immer etwas, das uns davon abhält.

Kreuz im Rücken
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