Was als Faktum gilt und was nicht, das nimmt nicht nur im Wettstreit der politischen Meinungen, sondern auch in weniger beachteten kulturellen Sphären oftmals erstaunliche Verläufe. Unlängst bin ich – seit langem eine Skeptikerin nicht nur gegenüber den religiösen, sondern auch und gerade den scheinbar rein säkularen Lehren von heilen Seelen – auf ein neues, Krankheits-Wahrnehmungs-Schema aufmerksam geworden. Ich wurde nämlich vor einer Frau gewarnt, die unter dem Asperger-Syndrom, einer, wie es heißt, leichten Form von Autismus leide. Menschen mit dieser Erkrankung würden dazu neigen, sehr genau nachzufragen, sich viele Kleinigkeiten genau einzuprägen und in der Kommunikation die Wahrheit über die soziale Geschmeidigkeit zu stellen. Oha, dachte ich, das muss ja schlimm sein, und schlug die Warnung bedenkenlos in den Wind. Mit Grund und Recht, die Zusammenarbeit war vollkommen problemlos, die Frau, vor der ich gewarnt worden war, erwies sich als äußerst liebenswürdig, verletzlich und verletzt, nur ein bisschen durcheinander dadurch, dass sie alles, was ihr widerfuhr, neuerdings mit Hilfe dieser seltsamen Diagnose glaubte erklären zu müssen. Was soll die ihre also für eine Seelenkrankheit sein? Und was bedeutet die Identifizierung einer Seele als autistisch und also „unheil“ für das normierende Bild der heilen Seele? Eine heile Seele fragt nicht nach, eine heile Seele denkt nicht nach, eine heile Seele merkt sich keine Kleinigkeiten, Muster und Bilder so genau?

Einmal aufmerksam geworden, habe ich bemerkt, dass diese Sorte Diagnostik bereits weite Gebiete des Kulturlebens erfasst hat. Versuchen Sie mal, den hier verlinkten Artikel mit den Augen einer Leserin vor, sagen wir, hundert bis hundertfünfzig Jahren zu lesen.

https://www.zeit.de/2018/23/hoehlenmalerei-eiszeit-archaeologie-kunst-autismus-geschick

Ernsthaft, man wüsste gar nicht, wo mit dem Erklären anfangen, oder? Um zu erklären, was da passiert ist, brauche auch ich ein bisschen Zeit. Urs Willmann meint es ja nur und nur gut. Er berichtet uns von einer schon nicht mehr ganz frischen Theorie, nach der die Schöpfer*innen der phantastischen eiszeitlichen Höhlenbilder vermutlich Autisten waren, da sie ja unmöglich nach der Natur gemalt haben können und also ihre Muster aus dem Bildgedächtnis hervorgezaubert haben müssen. Und wer ein derartig wunderbares präzises Bildgedächtnis hat, so eine anscheinend mittlerweile absolut durchgesetzte psychologische Theorie, der muss natürlich autistisch sein und sozial nicht so funktionieren, wie es von der einheitlichen sozialen Dienstseele, vor deren Hintergrund alle anderen als gestörte Kranke erscheinen, mit Fug und Recht erwartet werden kann.

Noch einmal, Urs Willmann meint es gut. Er möchte auch ein bisschen relativieren. Er scheint selbst mit dem Anachronismus der Begriffe zu spielen, wenn er in seinem letzten Absatz schreibt: „Und Inklusion? Vermutlich reichten schon moderate Maßnahmen, um die genialischen Artgenossen zu integrieren. Die Mühe lohnte sich für die gesamte Gruppe. Kamen die Sonderlinge von der Jagd, gab’s Frischfleisch. Kamen sie aus ihren Ateliers gekrochen, gab es tags darauf Kunstwerke zu bewundern.“

Für diesen Fall ist das wirklich ganz nett gemacht. Und wie sollte er nicht glauben, was ihm die moderne Wissenschaft selbst als Faktum präsentiert? Demnach ist Autismus eine genetische Abweichung von der genetischen Mehrheitsausstattung, sowie die Veranlagung zu roten Haaren oder Linkshändigkeit. Im Genpool haben sich diese Gene erhalten, weil es eigentlich für alle ganz nützlich war, so ein paar hochbegabte Sonderlinge bei sich zu haben, die sich alles mögliche Zeug merken, aber mit den gesund oberflächlichen Anderen nicht so kommunizieren konnten, wie diese es erwarteten. In diesem Sinne fasst Willmann die Einsichten der Archäologin Penny Spikins zusammen. Dabei wird schon dieses letzte Glied der Erklärung gar nicht mehr mitgeliefert. Also dass die anderen, die Mehrheitsmenschen, meist andere Formen der Kommunikation bevorzugen als die mit den inneren Bildern Beschäftigten. Sondern die abweichende Minderheit ist ausschließliches Objekt der klassifizierenden Betrachtung, aber die mit Hochbegabung (und nicht mit Minderbegabung) einhergehende Minderheitsgenausstattung ist das alleinige Objekt der Betrachtung.

Mit diesen Minderheitlern sind viele Menschengruppen aber nicht gleich selektierend verfahren. Ein „autistisches“ Leben ist also nicht unbedingt eine Variante des lebensunwerten Lebens gewesen, oder jedenfalls nicht in allen Menschengruppen aller Zeiten? Man ist froh und dankbar, dies zu lesen. Nur könnte es ja auch sein, dass nicht zu allen Zeiten der Maßstab der Mehrheit als das Maß aller Dinge gegolten hat? Und kann es nicht sein, dass aus der Sicht der Minderheitler die kulturellen und kommunikativen Gewohnheiten der Mehrheit halt von einer Grundbeschränktheit und einer Grundverlogenheit als Kulturtechnik bestimmt waren, gegen die zu allen Zeiten die moralischen und intellektuellen Genies wetterten – wofür sie in der Regel zwar nicht unbedingt geliebt, aber doch auch meist nicht für krank gehalten wurden? Klar, mit den hohen Künsten ist es nochmal ein bisschen anders.

Aber gehen wir nicht gleich in die Eiszeit zurück, sondern die erwähnten 100 – 150 Jahre, dann werden wir immer noch auf wenig Verständnis für die Theorie von den „Autisten“ treffen. Die waren halt Genies, würde man wohl eher gesagt haben, und natürlich kann ein Genie aus dem Gedächtnis malen, Texte rezitieren, kann aus seiner eigenen visionären Kraft eine Religion erfinden oder die Schwachstellen an jahrhundertealten Traditionen so brillant ausformulieren, dass von da an kein Theologe mehr an ihm vorbei kommt. Und natürlich lag das sogenannte Genie immer nah beim sogenannten Wahnsinn, was daher kam, dass der geniale Mensch sich für seine Eingebungen in seinen Gedanken ein wenig vom Denken der Mehrheit entfernen musste, um auch die fesselnden Bedenken dieser Mehrheit abzulegen: aber dass, wie in modern gewordenen Autismus- und Aspergerdefinitionen selbstverständlich geworden, eben diese mehr oder weniger heroische und meist nicht sehr angenehme Entfernung von der Mehrheit und mit ihr jedes genauere Nachfragen zu einem Krankheitssymptom geworden ist, das hätte sich sicher kein Anhänger irgendeines Geniekultes vor hundert Jahren träumen lassen. (Außer Nietzsche vielleicht, der prophetisch vor sich sah, wie die letzten Menschen auf einer klein gewordenen Erde herumhüpfen und blinzelnd behaupten, sie hätten das Glück erfunden: die Texte aus „Also sprach Zarathustra“ zum Thema finden Sie im folgenden Link).

http://www.vns.somee.com/vns_themen_beschreibung.cshtml?id=30

Urs Willmann meint es gut, und dann macht er es auch fast gut. Er malt uns eine Eiszeithöhle an die Wand, in der die Menschen noch ganz ohne großes Integrations- und Bereicherungsgeschwurbel wussten, was sie an begabten Sonderlingen hatten. Geben wir den Wissenschaftler*innen, die ihre verschiedenen Erklärungsmodelle so mühselig zusammen bringen, damit, was dem Psychologismus als Faktum gilt, ebenso Faktum bleiben darf wie die Perfektion der Höhlenbilder, etwas zurück, was den Philosoph*innen früherer Epochen noch als der Beginn allen über den Alltag hinausgehenden Denkens galt: das Staunen. Staunen wir vielleicht wieder darüber, wie gläubig sich die Menschen, die ältere Fakten – so manche rassistische Aussage aus der Zeit vor 100 – 150 Jahren zum Beispiel, so manche vermeintliche genetische Ursache für Kriminalität, Unterwürfigkeit oder Pauperismus – bedenkenlos als überholt verwerfen, nun wieder dem neuesten Faktum, der Maximaldiagnostik an fernsten Menschen in fernsten Zeiten überlassen. Gerade so, als hätte es die kritische wissenschaftliche Selbstreflexion über Wahrnehmungsschemata nie gegeben.

Wo man sie noch findet? In Büchern zum Beispiel, deren Ewigkeitswert im Vergleich zu dem der Höhlenbilder, die uns wunderbarerweise von vermutlich völlig unheilen Seelen, die womöglich doch von ihren Mitmenschen früher oder später malträtiert wurden, schon jetzt als widerlegt angesehen werden muss.

Schade eigentlich. Denn die Reflexion auf Wahrnehmungsschemata war ein echter kultureller Fortschritt – und wo das Wahrnehmungsschema nicht reflektiert wird, da gibt es meistens mehr Opfer als da, wo es von mutigen und begabten Minderheitlern reflektiert wird.

 

Bilder: Das Beitragsbild ist eine eigene Fotografie aus der Villa Farnesina in Rom. Es zeigt ein Wandbild von Alexander und Bucephalus, das der Künstler vermutlich nicht am lebenden Vorbild gemalt hat. Das Buchfoto zeigt einen Ausschnitt aus Sigrid Brandts immer noch lesenswertem Beitrag „Hat es sachlich und theologisch Sinn, von ‚Opfer‘ zu reden?“. In: Bernd Janowski und Michael Welker (Hg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte, Frankfurt am Main (suhrkamp) 2000, S. 247-281, hier S. 249.

Seelenheil in der Eiszeit – und die heile Seele der letzten Menschen
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