„Im Dunste aber wesen die Oberhäupter und sprechen ihre Befehle, und noch wenn die Sonne durchbricht, so lassen sie ihren irdischen Abdunst heller erstrahlen als die Wolken des Morgenhimmels; ist jedoch ihre Stunde vorüber, so feiern diejenigen ihre Auferstehung, die im Leben niemals daran geglaubt haben, sitzen beieinander, essen und trinken und freuen sich.“
Mit diesem Satz (gebaut im EinSatzPrinzip, das ich seit Jahren „blogweise“ bewege) möchte ich heute meine Einladung zu freiem und heiterem Reden über Religion eröffnen. Ich habe ihn in einem Traum gehört, dessen Bilder aussahen wie Gemälde der frühen Renaissance, in denen die Betrachterin sich immer zugleich in einem Innenraum und in einer weiten, fantastischen Landschaft wiederfinden kann, während im Vordergrund die verschiedenen Heiligen in den künstlerisch besonders beliebten Posen und Konstellationen dargestellt sind.
Es mochte an der besonders hohen Zahl von Pandemietoten oder einfach daran liegen, dass ich für ein Buchprojekt jeden Abend vor dem Einschlafen in der schönen neuen und kommentierten Ausgabe von Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“ las – ein Werk, in dem die Entstehungsgeschichte des Monotheismus höchst eigenwillig erzählt wird, unter anderem so, dass Stoffe der jüdischen Mystik in die Träume des jungen Joseph verlegt und die Mythen von der Auferstehung des Tammuz mit dem christlichen Evangelium von der Auferstehung Jesu verwoben wird. Jedenfalls war dieser Winter 2020/2021 bisher einer, in dem ich lebhafter als sonst träumte, und die Träume nahmen oftmals einen Zug an, den frühere Epochen oder auch nur andere sogenannte „kulturelle Umfelder“ als „visionär“ eingestuft haben würden. Solche Schauträume sind bekanntlich immer als besonders bedrohlich und als besonders verheißungsvoll empfunden worden, und ihre Weitergabe ist nicht erst seit Aufkommen der psychoanalytischen Traumdeutung riskant, wie Thomas Mann in dem Roman ungeheuer sprachgewaltig anschaulich macht.
Da wird Joseph schon lange von seinen Brüdern als „Träumer von Träumen“ bespöttelt, denn immer wieder erzählt der Knabe eigene visionäre Träume oder legt anderen ihre Träume aus. Es ist schließlich sein Garbentraum – die von den Brüdern geernteten Garben sind schlaff und verneigen sich vor seinen kraftvoll inmitten des Kreises der Brüdergarben stehenden – der die älteren Brüder so sehr gegen Jaakovs Lieblingssohn aufbringt, dass sie sich vom Vaterhaus losreißen und bei der ersten Gelegenheit versuchen, den „Großhans“ (eines der lustigsten Schimpfworte, die sie für ihn finden) aus der Welt zu schaffen. Der Bibel und dem Roman nach ist freilich der unableitbare, durch keine Vernunft und keine Gerechtigkeit zu rechtfertigende „Segen“ auf Josephs Haupt ungleich stärker als die Gewalt der Brüder, und so wird noch der empörendste Traum, den wir heute ohne weiteres als den narzisstischen Traum eines unreifen Knaben auslegen würden, am Ende der Geschichte als ein Wahrtraum erwiesen. Denn in einer Hungersnot müssen die Brüder bekanntlich in Ägypten, wohin Joseph als Obertraumdeuter gelangt ist, bei ihm um Getreide bitten.
Wie sehen wir es heute? Restlos erforscht ist es noch nicht, was wir wann warum träumen, und gerade das macht in einer immer besser erforschten Welt Hoffnung: Hoffnung darauf, dass womöglich doch nicht alles in Kausalsätzen beschreibbar ist, Hoffnung darauf, dass irgendwo eine Lücke in den dichten Erklärungen von Mensch und Welt sein könnte: eine Lücke, durch die Freiheit nicht nur als Unterwerfung unter die Notwendigkeit, sondern vielleicht doch als unberechenbare und unberechnete Freude einbrechen könnte. Ihr Unberechenbares haben ja die Freiheit und der Gott des Monotheismus gemeinsam. Träume haben Anteil an der wie verzaubert und oft bezaubernd wirkenden Unberechenbarkeit aller Hoffnung auf Freiheit und Segen. Träume sind selbst manchmal vielleicht einfach nur Versuche, der im Joch von (alten mythischen und modernen wissenschaftlichen) Dogmen stolpernden Seele, freier und heiterer über „religiöse“ Themen zu sprechen, als es diese oder jene gefrorene Denkungsart erlauben möchte.
Wozu die Anführungsstrichlein um das Wort „religiös“? Hier einfach deswegen, weil Träume sich auch um den Unterschied von „religiös“ und „nichtreligiös“ nicht scheren (und im übrigen habe ich im Studium der Religionswissenschaft ja ausführlich lernen dürfen, wie heikel der Begriff der Religion selbst ist).
Bleiben wir einen Augenblick beim eigenartig dunstigen Stoff, aus dem die Träume sind. Sind sie nicht, „for better or worse“, immer noch vor allem Grüße aus denjenigen Regionen unseres inneren und äußeren Lebens, die uns im Wachzustand nicht zugänglich und von uns selbst niemals restlos beherrschbar sind? Gewiss, es gibt neuerdings Versuche, zum Beispiel in der Traumatherapie, auch Träume zu beeinflussen. Wir wünschen allen Leidenden Erleichterung. Aber würden wir uns noch mögen können, wenn die Beeinflussung und Korrektur der Träume durch den „Willen“ (ebenfalls eine höchststreitige Kategorie in diesem Zusammenhang) restlos gelänge? Woher sollten wir denn in einer restlos erklärten und beherrschten Welt auch nur das Interesse an weiteren Fragen nehmen? Wie berührbar bleiben durch das, was dem Besseren in uns zwangsläufig schlecht erscheinen muss, oder durch das, was das Bessere in uns zu noch Besserem anregen könnte?
Wir brauchen für das muntere Voranschreiten in den für uns begehbaren Räumen eine Ahnung von noch nicht begangenen, möglicherweise nie begehbaren, aber doch verlockenden anderen. Diese Ahnung finden wir oftmals in unseren Träumen. Darin ist sich eine vorwiegend ernüchternde und der „Arbeit am Unbewussten“ dienende Traumdeutung einig mit der eher kämpferisch-utopistischen Haltung, die da sagt: „Wer keinen Mut zu träumen hat, hat keine Kraft zum Kämpfen“ oder „Wenn ihr wollt, ist es kein Traum.“ Denn ja: Viele Träume, denen Menschen nachjagten, sind zerstoben – andere aber haben durchaus die Kraft besessen, so viele real-tätige Energie der erwachten Menschen auf sich zu ziehen, dass sie schließlich doch verwirklicht wurden.
In meiner täglichen Arbeit mit dem Tod und der Trauer träume ich immer öfter von Auferstehungen. Einer dieser Träume war durch viele andere Träume in ähnlich still zielstrebiger Weise vorbereitet worden wie auch jener Garbentraum des Joseph – aber selbst bei skrupulösester Selbstbefragung erschien er mir auch am wachen Tage nicht eitel. Kindisch freilich schon. In der vorbereitenden Traumserie erfüllte ich mir, wie eine freudianische Traumdeutung sicher leicht einsehen würde, den in Zeiten des Lockdowns verbotenen Wunsch nach heiterer Geselligkeit: Immer wieder wurde in meinen Träumen gefeiert, getanzt, gesungen, gemeinsam gesprungen und gelacht. Dabei waren viele Geselligkeiten unter Beteiligung von Menschen, die längst verstorben sind, und zugleich waren immer auch jetzt lebende liebe Menschen dabei, Verwandte und Unverwandte, in allen Lebensaltern. Und immer waren die Szenen von offenen Landschaften und Einblicken in geschlossene Räume bestimmt – immer schien das träumende Ich sich gleichzeitig drinnen und draußen zu befinden. Immer durchwanderte es die verschiedenen Landschaften, die in der Berliner Gemädegalerie zu bestaunen sind, und nie war mir alles zu überblicken, was geschah, und immer erzählte sich dennoch eine Geschichte.
In allen Träumen, so auch in diesem letzten, war ich die erwachsene Frau und Mutter, die ich seit mindestens drei Jahrzehnten „im richtigen Leben“ bin, und es gab immer Erinnerungen an Zuständigkeiten, Pflichten und die Komplikationen zwischen der Erfüllung der verschiedenen Verpflichtungen und den kleinen Vergnügungen, die das träumende Wunschwesen sich doch auch zu verschaffen gedenkt, wenn Freud ein bisschen recht hat.
In diesem letzten Traume nun saß ich am südfranzösischen Strand, die Füße im Wasser, auf dem Schoß etwas so Unromantisches wie ein tablet. Denn nur in diesem tablet konnte ich meine erwachsenen Töchter sehen, die in ihrer je eigenen Welt an fremden Stränden mit ihren Freundinnen und Freunden unterwegs waren, Ballspiele spielten, schläfrig grüßten oder mit bunten Getränken einander zuprosteten. Gelehnt an eine dieser unmöglichen Gemäldewände saß der seit mehr als zwei Jahrzehnten von mir getrennte Vater der Töchter und murrte. Ich war überzeugt, dass mich das nichts anginge. Schließlich stand er auf und ging. Ich blieb eine Weile sitzen, die Zehen im kühlenden Wasser, wusste aber, dass es mein „Auftag“ sei, ihn zur Teilnahme an einer größeren Familienrunde zu bewegen.
Ein Auftrag aus dem Dunst, in dem die Oberhäupter westen und befahlen, wie die Welt in ihrem Sinne zu ordnen wäre. Und ich hatte die schwerwiegende Erfahrung über mir, dass gegen ihren Befehl nicht aufzukommen wäre.
Ich beendete also seufzend die digitale Plauderei mit meinen Töchtern und erhob mich, um den Befehl zu erfüllen und den murrenden Mann zu suchen. Er hatte, so musste ich aus seinem Murren doch erfahren haben, noch nicht begriffen, dass ich ihn wirklich als von mir Getrennten und nur namens des Befehls der Oberhäupter, denen er seinen Unterhalt verdankte, vor diese zu bringen hatte. Anders als mir war ihm nicht bewusst, dass diese (Oberhäupter aus meinem Herkunftsbereich) ihn mir vorzogen. Die Oberhäupter schienen ihm zu suggerieren, dass er zu mir zurückzukehren und mich als eine Art Lea mitzuschleppen hatte, als eine „gehasste Frau“, und er schien zu fürchten, dass ich von ihm Liebe erwartete. Was ich keinesfalls tat. Ich hatte mich vielmehr längst von diesen Oberhäuptern losgesagt und ihr bedrückendes Arrangement verworfen. Dass ich dennoch ihrem Befehl folgte, ihn vor sie zu bringen, geschah von mir aus als bloße Geste der Humanität, so dachte ich, denn da sie ihn nun einmal mochten und bereit waren, ihn zu versorgen, sollten sie das doch ruhig tun. Ich selbst hingegen war entschlossen, mich allein in der Welt durchzuschlagen, anstatt die doppelte Demütigung der zugeschobenen Gehassten zu ertragen. Und ich hoffte, ihre sehr strenge Strafe für meine Selbstermächtigung zu mildern, indem ich ihnen für ihr in meinen Augen verwerfliches Geplane den minimalen Segen gab, den ich dafür erübrigen konnte. Er aber grollte mir, weil er glaubte, dass ich mit Unterstützung der Oberhäupter ihn zurückholen wollte, denn er hielt sich noch für eine Kostbarkeit nicht nur in der Oberhäupter Augen, sondern dachte, er wäre doch auch für mich unentbehrlich, denn meine Situation war doch sonst allzu traurig.
Meine unerfüllbare Pflicht bestand nun also darin, dem Mann klar zu machen, dass er sich allein mit den Oberhäuptern auseinander zu setzen hatte, und dass ich von ihm nichts wollte, dass ich draußen war. Alle waren gegen alle ausgespielt, so schien mir, aber der Gang der Welt war in solchen Fragen noch immer so, dass Versöhnung der Männer über dem toten Körper einer Frau statthatte. Etwas, dem ich mich nicht nur um meiner selbst willen, sondern auch der Töchter und aller Frauen wegen entziehen und gegebenenfalls aktiv widersetzen wollte. Sie sollten doch einmal probieren, dachte ich, die Frau nicht zu töten, sondern gehen zu lassen, vielleicht wäre das möglich, sicher war ich nicht.
Ziemlich bedrückt schritt ich voran. Der schmaler werdende Sandweg führte hügelan. Ich kannte ihn von lange her, ebenso wie die Strandpromenade von Nizza, auf der ich schließlich herauskam. Von einem etwas erhöht gelegenen Haus mit einer Terasse hörte ich plötzlich eine von fern her vertraute Weise, meinen Namen zu rufen. Ich drehte mich um und sah einen Mann, den ich lange geliebt hatte, von dem ich aber wusste, dass er gestorben war. Er stand da, groß und schön, etwas hagerer als ich ihn in Erinnerung hatte, mit einem etwas runderen Gesicht, und gekleidet in einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte wie der Besucher einer Trauerfeier. Aber er hielt eine Flasche Rotwein in der Hand und strahlte freundlich über das ganze Gesicht. Ich blieb stehen, ließ mich vom Strahlen anstecken und sagte: „Hallo, herzlichen Glückwunsch zur Auferstehung!“ „Komm mit zu den anderen!“ sagte er, und gemeinsam stiegen wir die kleine steinerne Treppe hinan zu einer Terrasse, die wieder wie alles andere zugleich ein Innenraum und ein freier Platz zu sein schien. Dort saßen viele Menschen in ähnlichen Anzügen. Die meisten von ihnen waren Auferstandene, und es war eine heiter-fröhliche Runde. Das Meer leuchtete mittlerweile im Abendrot, ein leichter Wind brachte die Palmwedel zum Klirren, und sehr lebendige Vögel waren zu hören und zu sehen. In allen Farben und Formen umflatterten sie die Szene. Alle aßen, die Normalsterblichen wie die Auferstandenen, und alle ließen sich den guten Wein schmecken.
Das war schon der Traum. Auferstehung und das Vergessen aller Pflichten? Ehrliche, traurige Pflichterfüllungsversuche, die aber scheitern und doch mit einer Auferstehungsparty belohnt werden? Wo blieben die Töchter? Hatten sie es gut an ihren fernen Stränden, wo weder ihr Vater noch meine Oberhäupter sie unter Kontrolle hatten? Wo waren die stets in undurchdringlichen Dunst gehüllt gewesenen Oberhäupter, deren Willen ich immer nur aus kleinen Hinweisen erkannt hatte, die ihren allzu „vernünftigen“ Planungen entschlüpft waren? Wo der Mann, den sie als einen der Ihren ansahen und als Nachfolgeoberhaupt über meine Töchter und mich setzen wollten, während er selbst zu glauben schien, dass ich mich mit ihrer Hilfe über ihn setzen wolle? Woher kam der seltsame und ganz sicher nicht heilige Auferstandene, woher die anderen Auferstandenen? Jedenfalls aber schienen sie mich vor der bis dahin unentrinnbar erscheinenden stillen „Opferung“ zu retten, und die Heiterkeit, mit der wir alle einander immer wieder zur Auferstehung gratulierten, war ungebändigt.
„Manchmal stehen wir auf“, schreibt Marie Luise Kaschnitz,
„stehen wir zur Auferstehung auf mitten am Tage.
Mit unserem lebendigen Haar
Mit unserer atmenden Haut.
Nur das Gewohnte ist um uns.
Keine Fata Morgana von Palmen
Mit weidenden Löwen
Und sanften Wölfen.
Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.
Und dennoch leicht
Und dennoch unverwundbar
Geordnet in geheimnisvolle Ordnung
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.“
Was immer dieser Kunsttraum Ihnen oder mir sagen mag: für einen Augenblick hat er mit all der alten Menschheitshoffnung, die hinter ihm steht, meinem inneren und vielleicht auch, ohne dass es gleich sichtbar wäre, meinem äußeren Leben einen kleinen, vollkommen unerwarteten Glanz verliehen. Wenn es mehr nicht ist, was wir zu hoffen hätten – es wäre schon eine ganze Menge.
Im Dunste aber die Oberhäupter schwiegen fort.