Eigentlich heißt dieser Blog ja „So frei und heiter wie möglich über Religion sprechen.“ Aber: auf jedes „eigentlich“ folgt bekanntlich ein „aber“. Und so spreche ich heute mal frei und heiter unter der Religion durch. Es geht manchmal nicht anders.

Angefangen hat es bei mir diesmal damit, dass ich etwas über die Eröffnung des Humboldt-Forums gelesen hatte. Das war ja in diesen Tagen in Berlin und seinen Medien nicht wirklich zu vermeiden. Alle haben darüber berichtet, und jedem ist was anderes aufgefallen. Ich bin hingekommen, und der erste Eindruck wurde (für die Erstbegehung) der letzte: die Spreeinsel ist kompakt versiegelter Boden. Besonders da, wo dieses Schloss herumsteht. Die Krönung des Ganzen ist bekanntlich sein Deckel, dessen umlaufende Inschrift lautet: „Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

 

Man kann den Text von unten nur mit Mühe lesen. 34 Zentimeter hoch sind die goldenen Lettern, und dass das architektonische Detail „unterhalb des Gesimses“ den Namen „Tambour“ trägt, weiß ich nur aus der Diskussion um eben diesen Text. Sie erinnern sich? Letztes Jahr war das, da haben alle mal kurz nachgeguckt, woher dieser Spruch kommen könnte und zweierlei herausgefunden: Erstens ist er von royaler Hand aus zwei Bibelstücken zusammengesetzt, nämlich aus Apostelgeschichte 4,12 und dem Brief des Paulus an die Philipper, 2,10. Zweitens wurde er sehr ausdrücklich zu diesem herrschaftlichen Zeichen kompiliert, nämlich in Antwort auf die frühen, rückblickend nachgerade schüchternen preußischen Demokratisierungsbestrebungen in der 1848er Revolution, die dann doch sehr schnell wieder unter dem Pflaster verschwanden.

 

Geblieben sind damals ein paar Texte, die mit ihrem Witz auch heutige Leser:innen noch erheitern können. Mir zum Beispiel bleibt der Text von Georg Weerths Spottgedicht auf den Regierungsrath und seinen Zorn auf die Neue Rheinische Zeitung unvergessen, solange ich noch denken kann.

 

Während also die Texte jener Jahre mir durchaus seit meiner Jugend vertraut waren – denn die linke niedersächsische Landjugend suchte in den Siebziger Jahren aktiv nach Vorbildern auch im eigenen Sprachraum – hatte ich von den optischen Reizen der Epoche nur eine eher schwammige, von vielen Ruinen gestörte Vorstellung. Das ist nun Gottlob anders. Ein paar Weltkriege und „friedliche Revolutionen“ weiter haben wir endlich wieder in Stein und Gold das Hohenzollernschloss. Und hier wird nun endlich alles anfassbare Wirklichkeit, was alle schon immer über die Deutschen gesagt haben. Wenn ich sage alles, dann meine ich alles. Selbst die eine zugekniffene Fassade, die man als Zugeständnis an die Moderne dem Genius von Franco Stella anvertraut hat, ist absolut angeschlossen und verkündet optisch, wie mir scheint, eine gewisse Spottlust des Italieners gegenüber dem Auftrag und denen, die ihn erteilt haben.

 

(Wie sehr die „Mentalitäten“, um es sträflich vorurteilsvoll und albern gutmütig auszudrücken, hier aufeinandergeknallt sind, zeigen die mittlerweile längst überpflasterten und versiegelten Skandale um die Ausschreibung. Oder erinnern Sie sich noch daran?)

 

Was mit diesem Ort los ist: Ich kann das nicht so richtig erklären, vielleicht will ich es auch einfach nicht erklären. Aber erzählen möchte ich Ihnen schon, wie es mir ergangen ist, als ich meine ersten Schritte auf das Gelände unternahm. Es war ein eigentlich ganz angenehmer Julitag. Bisschen grau, nicht zu warm, nicht zu kalt, ich hätte für den Auftrag auf einem Friedhof in Mitte nicht das Fahrrad nehmen sollen. Als diensthabende Rednerin fahre ich aus guten Gründen eigentlich nie mit dem Fahrrad zur Feier – man ist zu ausgesetzt und kann die Ausstrahlungsspannung für den Dienst nicht aufbauen, ich weiß das; aber wegen der weiteren Wege hatte ich eine Ausnahme gemacht, denn in der Innenstadt ist man mit dem Dienstauto einfach aufgeschmissen. Und ich hatte ja eine Schlossbesichtigung vor. Für die Annäherung an das Objekt meiner Recherche war das Fahrrad dann auch genau richtig. Ist schon groß das Schloss, das fiel mir gleich auf. Und auf dem Platz davor flatterten bunte Fahnen, die in verschiedenen frischen Farben und Sprachen anzeigten, dass es jetzt offen ist. Das deutsche Wort „offen“ flatterte in weißen Lettern auf einer gelben Fahne, es gab auch grüne, auf denen es war, sie hatten viele Sprachen und viele Farben, dazu unterschiedliche Fahnenformate. „Auch wir können bunte Moderne“ schien aus unsichtbaren Lautsprechern verkündet zu werden. Okay, dachte ich, das „hörst“ nur du, weil du immer alles in Sprüche bringen muss, Berufskrankheit halt. Aber auch ein laut, offen und einladend in die Mikrofone gesungener und mit sagen wir 89 Dezibel über den Vorplatz verbreiteter Kommentar dieses Wortlauts hätte Mühe gehabt, gegen die dröhnend gewaltige Massivität des Gebäudes aufzukommen. So sieht das nämlich aus.

 

Sie glauben mir nicht? Sie waren da, Sie waren begeistert? Okay, ich will Ihnen nicht den Spaß verderben. Ich bin übrigens selbst mit dem Versuch, sehr offen zu sein, hingefahren. Und ich werde es öfter tun, verlassen Sie sich drauf. Vielleicht mögen Sie mich trotzdem kurz auf meinem Erstbesuch begleiten? Vielleicht mögen Sie trotzdem versuchen, den ersten Schreck zu verstehen? Es war nur meine Mittagspause an einem normalen Arbeitstag, und länger brauchen wir hier auch nicht. Nah am Eingang stand also auf einer im grauen Wind ein bisschen flatternden, aber zur allzeitigen Lesbarkeit doch fest genug aufgespannten Fahne weiß auf gelb „offen“. Ich beschloss, mich an diesen Rat zu halten, und es (ich wiederhole mich) wirklich ganz offen und unbefangen auf mich wirken zu lassen – auch dafür war ich schließlich auf dem offenen Fahrrad angereist. „Oft wehrt man sich lange, und dann ist es doch schön“, dachte ich mir, während ich das Fahrrad an den Schwarzfeller Mietbauzaun anschloss, und drückte die Konnotationen auch eines solchen Satzes mit Absicht und Bewusstsein weg. Weiß und gelb, dachte ich, weiß und gelb. Weiß und gelb wirkten ja auch die Fassaden, so vor dem grauen Julihimmel. Durch das Tor zu gehen, hatte ich gelesen, löse bei vielen Menschen Glücksgefühle aus. Das habe ich gleich verstanden. Seit Jahren kenne ich diese Freude, wenn meine Stadt mir einen neuen öffentlichen Ort schenkt, wenn ich eingeladen werde, am Kulturleben teilzunehmen, wie man das heute ausdrückt, und hier war es also so. Ich nahm mir keine Zeit für die Objekte, in denen was erklärt wurde, standen eh zu viele Leute davor, und ich wollte ja den Ort selbst erstmal kennenlernen.

Die erste Person, die mir auf dem Schlüterhof, auf dem viele Menschen herumschlenderten, auffiel, war ein dunkelhäutiger Mann in gelbem T-Shirt und weißen Hosen, der mit einem Besen (dessen Farbe ich vergessen habe) dafür sorgte, dass der Platz noch ein bisschen sauberer und versiegelter aussah als eh schon. Ich konnte mir so ziemlich alles dazu vorstellen. Die anderen, die von ihm weg guckten, wohl auch. Aber wir wollten doch einen schönen Tag haben. Man kann wirklich auch woanders hingucken. Über die Jobs, über ihre Vergabe, hatte ich auch was gelesen. Das klang nicht so gut, hatte aber weniger mit dem Reinigungspersonal und mehr mit denen zu tun, die da Führungen machen sollen. Über das Reinigungspersonal hatte niemand geschrieben. In der ganzen Debatte über kolonialistische Vergangenheit, die sich in diesem Gebäude in Erinnerung bringen soll, heute natürlich anders als damals usw., war niemand auf die Idee gekommen, die Frage zu stellen: wer putzt eigentlich heute unsere Plätze blank? Natürlich ist das ja auch ein komplexes Thema. Man kann nicht alle Probleme gleichzeitig lösen usw. Also dachte ich sicherheitshalber mal, trotzdem, ist doch besser, einer hat den Job als er hat keinen, das sieht er womöglich genauso. Fotografiert habe ich ihn natürlich nicht. Ich hatte nur plötzlich das Gefühl, als würde mein Schlossbesuch schon mit der Scham beginnen, die „unsere Vergangenheit“ nie versäumt, mir aufzudrücken, und ich sah mich ratlos um.

 

Dann musste ich entscheiden, wie ich mein bisschen Zeit nutzen wollte. Unter der Kuppel knien wollte ich vorläufig nicht. Auch lautes Rezitieren des Weerth-Gedichtes mitten auf dem Schlüterhof erschien mir zu riskant. Aber für einen Blick in den Skulpturensaal würde es reichen, dachte ich, während ich schon mal zur Kenntnis nahm, dass sie wirklich das Bistro „Lebenswelten“ genannt haben.

Ist halt alles sehr gelehrt? Erst einmal der Skulpturensaal. Dass die nur sehr schonend restaurierten Original-Skulpturen zu hoch auf ihren Säulen stehen, hatte ich schon in der Zeitung gelesen. Es stimmt, schien mir, ich empfand es nach, ohne viel zu spüren. Irgendwie „flott“ hingegen fand ich die kleine Sammlung von Widderköpfen. Widder spielen ja in unseren Religionen eine wichtige Rolle, ob in den Schäfergeschichten der Hebräischen Bibel (die Thomas Mann veranlassen, in seinem Josephsroman Isaak selbst mit Schafseigenschaften auszustatten) oder in residentiellen Alleen wie der Widder-Sphinx-Allee im ägyptischen Karnak. Schön, dass die Preußen daran auch teilhatten, dachte ich, und blieb einen Augenblick vor den zusammengetragenen Resten stehen.

Dann zog mich das „männliche Fabelwesen“ an – aber die Erklärung auf dem Schild daneben verabreichte mir gleich die womöglich schon wieder nötig gewordene Versiegelung. Dabei, ernsthaft, ich weiß nicht, ob sich bei irgendwem auf diesem Gelände irgendwas regen kann, das wirklich nach Versiegelung schriee. Jedenfalls habe ich gelernt, dass auch die Vorgänger der Nachbauer schon Nachbauer von Vorgängern waren, und dass sie also manchmal Steine umgedreht wiederverwendet haben, weil ja im märkischen Sand mehr Sand als Stein ist, so dass man halt aus den Steinen, die schon irgendwer unter erheblichem Aufwand mal dahin geschafft hat, bevor wer anders sie dann zertrümmert hat, das Maximum rausholen muss. Okay. Ich gebe zu, ich lese die Erklärungen notorisch immer einerseits so, wie sie gemeint sind, und andererseits nochmal anders. Manchmal entstehen mir so nämlich ganz gute Fragen.

Vielleicht, fragte ich mich nun, ist das überhaupt das eigentliche Motto des Schlosses: das Maximum rausholen? Damit sind wir dann natürlich schon wieder bei diesem Thema des Kolonial… nein, darüber wollen wir doch hier und heute mal nicht sprechen, nicht immer wieder nur das! Heute machen wir uns wie Tausende von anderen jungen Alten und alten Alten mit Enkeln und ohne Enkel einen schönen Tag am Humboldtforum. Zum Glück stehen uns erst einmal hundert Tage zur Verfügung, in denen wir umsonst alles ansehen dürfen. Ich habe also Zeit, die Besichtigung der eigentlichen Ausstellungen zu verschieben. Testen wir erst einmal die Lebenswelten. Dort ging es, wie in Berlins Kulturtempeln fast überall, eng und sauber zu: das Heidelbeertörtchen war lecker und der Kaffee auch, die Preise innerstädtische Museumsnorm. Man durfte „im Freien“ an einem Tisch sitzend essen, es gab auch gerade so genug Platz. Nur dass ich, mit Kaffee und Kuchen am Tisch im vollversiegelten Schlüterhof angekommen, unter dem grauen Himmel mit Blick auf das Schild zur „history of the site“ erst stumm vor mich hin summte: „…und fast will  mir es scheinen es sei als in der bleiernen Zeit“.

 

Als nächster Gedanke stellte sich ein: „Ich will in den Wald. Oder nach Frankreich“. Ich nahm einen weiteren Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf. Kniff mich in den Arm. Geradezu verstört war ich plötzlich von der Beklommenheit, die der Ort in mir auslöste. Bestimmt ändert sich das noch, dachte ich, verzehrte alles, guckte mich noch einmal im Hof um und machte mich auf die Suche nach den „Restrooms“. Der Gang zu diesen Räumlichkeiten ließ alles in mir verstummen. Unter Lampen aus dem Palast der Republik standen goldbezogene Sessel. Die Treppen hinuntersteigend zu den Toiletten, las ich wie alle vor mir und nach mir den neonblauen Schriftzug: „Let the good times roll.“ Habe ich zu viel versprochen? Alles, was Sie je über die Deutschen gehört haben, ist wahr. Auch dies, dass sich ihr sogenannter Humor in der näheren Umgebung von Toiletten ganz besonders entfaltet.

Das wars schon. Meine erste Begehung unseres gemeinsamen Schlosses war zuende, ich musste zum nächsten innerstädtischen Arbeitstermin. Ich war froh, als ich wieder auf dem Vorplatz war, auf dem immer noch die Fahnen ihre verschiedenen Varianten von Offenheit verkündeten. Mein Fahrrad stand noch am Schwarzfeller Mietbauzaun, und oben am Himmel schwebte gerade mal wieder der Ballon, auf dem „Die Welt“ geschrieben steht. Ich weiß nicht, was es ist, aber mein Berlin ist das nicht mehr. Vielleicht liegt es an mir. Aber dieses Ding da, es erscheint mir so gewaltig verkorkst wie es gewaltig groß ist. Ich kann dazu gar nichts weiter sagen. Das Format dieses Blogs ist das Maximum an Öffentlichkeit, das ich für meine äußerst subjektiven Beobachtungen in Anspruch nehmen möchte. Aber unter dem Himmel über dem Tiergarten und angesichts der Tasse mit dem Palast der Republik, die ich im Museumsshop des Humboldtforums gekauft hatte, stammelte sich in mir wiederholentlich dieselbe Frage: Was ist bloß mit uns los, dass wir uns immer wieder sowas geben müssen?

 

 

 

Komplett versiegelter Boden. Erstbesuch im Humboldtforum

Ein Kommentar zu „Komplett versiegelter Boden. Erstbesuch im Humboldtforum

  • 1. August 2021 um 11:52 am Uhr
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    ein wunderbarer Text! Ich kann mich sofort hereinfühlen in diese Stimmung; allerdings wächst dann in mir die Revolte stärker noch als diese eher verhaltende Frage, was mit uns los sei. Es ist das Konzept des durchgestylten Design – hier gibt es keine Rücksichten auf ungezwungene Bewegungen und freie Spiele, nichts wird unberücksichtigt gelassen, alles muss in Reih und Glied an Ort und Stelle mit Sinn vollgepackt werden. Wir lassen uns keinen Platz mehr in solchem Design. Dazu gesellt sich die sich bescheiden gebende Monumentalität, die am Ende eine Lebenslüge ist.
    Übrigens: „Lebenswelten“ könnte hier auch die Bezeichnung für den Betreiber des Bistros sein. Es ist ein Verein, der Projekte in Berlin betreibt, in denen Menschen mit Behinderungen beschäftigt werden. Diese Projekte werden vom Senat gefördert. Vielleicht handelt es sich um ein solches Projekt. Ich weiß das aber nicht.

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