Lob des Gemeckers

Wie jedes Jahr ist es im Dezember ziemlich dunkel. Und wie jedes Jahr, so ballert auch in diesem der gesamte „Turbokapitalismus“ gegen die Dunkelheit mit allem, was die LED-Leuchtkörper hergeben. Überall Bäume mit Beleuchtung, bunte Schaufenster, hastende Menschen. Im Briefkasten Weihnachtsgrüße, im Radio die entsprechende Musik, und, untrennbar damit verbunden, das Gemecker über den Konsumrausch. Ich möchte das Gemecker loben. Erlaubt uns nicht gerade dieses Gemecker, dennoch an ausgewählten Bräuchen teilzunehmen? Manche Radiosender lassen ihre Hörerinnen und Hörer anrufen und sprechen. Die schütteln dann vernehmlich ihre Köpfe, weil sie es unmöglich finden, wie alle nur dem Geld und dem Konsum hinterherrennen. Während doch das wahre Glück im Einfachen liegt. Oder sie erzählen, wie sie vor allem einmal Zeit schenken. Zeit mit den Lieben. Oder wie herrlich einfach es früher war. Oder wie einfach und klimagerecht sie es dieses Jahr gestalten. Die bösen Anderen hingegen, die kaufen ja alles Mögliche, eingeschweißte Bücher, teure und geistig wertlose Elektrogeräte, echte Gänse im Frostbett oder plüschige Steiffkatzen im Plastiksack. Das Gemecker ist im Prinzip immer gleich – und die Hoffnung der Geschäftsleute auf ein gutes Weihnachtsgeschäft bleiben durch die Jahre ebenso wie die Hoffnung der Kinder auf gute Geschenke ungefähr gleich groß. Verändern tun sich nur Nuancen.

In diesem Jahr zum Beispiel gibt es kein Weihnachten ohne Klima. Die Selbständige, die sich an gewissen Gepflogenheiten der „Kundenbindung“ immer noch nur mühsam gewöhnen kann, fragt sich also: Schicke ich dieses Jahr nur noch elektronische Grüße, wegen der Umwelt, oder mache ich richtige Karten, auch wegen der Umwelt? Fahre ich bei ausgewählten Kund*innen vorbei, um eine Flasche Wein oder ein paar Kekse oder Kerzen zu bringen, oder mache ich, da ich das unmöglich bei allen kann, damit alles nur schlimmer? Wie halte ich es im Privaten? Jedes Jahr dieselbe Frage, jedes Jahr schon im Oktober die Feststellung: O Gott, bald geht das wieder los, was mache ich nur? In November und Dezember anschwellender Vorbereitungsdruck. Und zum Jahreswechsel spätestens die Erschöpfung, mit der ebenfalls wiederkehrenden Idee: nächstes Jahr denkst du entweder früher dran oder entziehst dich ganz, findest wen, mit dem du auf die Bahamas …

Aber ist das denn wahrer? Richtiger?

Wie es Ihnen geht, kann ich nicht wissen – aber ich bin nicht mal mehr überrascht, wenn ich jedes Jahr ein bisschen öfter feststelle: ich finde eigentlich vieles doch ganz schön. Einmal im Jahr mit den erwachsenen Kindern zusammen diese Gewürzgebäcke herstellen ist groß. Diese Befriedigung, wenn die Kinder etwas mitnehmen! Und: den eigenen Anteil vernaschen – das ist auch schön an dunklen Abenden. Der Hauptteil wird bei passenden Gelegenheiten verschenkt. (Und es gibt ja inzwischen sogar ökologisch halbwegs vertretbare, recycelte und abbaubare Plastiktütchen für die Kekse). Früher naschten wir die Schokolade vom Zaun um das en famille hergestellte Knusperhäuschen, Kinder wie Eltern, nehm ich an – aber ganze Lebkuchenhäuser mache ich erst wieder, wenn Enkelkinder der passenden Altersgruppe da sind, es ist schon etwas aufwendiger.

Bis dahin denke ich an den meisten Abenden eher darüber nach, für wen ich bei der nächsten beruflichen Beerdigung was in der Tasche haben sollte. Oder ob ich mal wieder mit meiner Lieblingsgraphikerin neue Karten entwerfen sollt. Dazu höre ich allen Ernstes das Weihnachtsoratorium. Jedenfalls manchmal. Dann besuche ich auch immer noch gern diese oder jene Veranstaltung der Saison, Konzerte, Vorträge, Lesungen, Empfänge in der Stadt. Dazu wenigstens ausgewählte Treffen mit und Besuche bei Freunden und Verwandten. Und dann Weihnachten selbst: Mit der Mutter erst zur Vesper in ihre Gemeinde und nachts noch einmal in eine der schönen Lüneburger Kirchen gehen – sie geben mir ein großartiges Raumgefühl nebst Chorgesang und, mit etwas Glück, eine gute kleine Predigt zur vertrauten Geschichte. Gut zusammen essen, sich gegenseitig mit Marzipan und soliden Geschenken bewerfen. Aber halt, da ist er schon wieder, der böse Konsum, und man muss meckern, wenn man ihn wirklich genießen will.

Denn alles, was ich jetzt aufgezählt habe, ist so, wie ich es hier aufgezählt habe, nun wirklich nicht „das Eigentliche“. Es ist nur „Brauchtum“, bestenfalls „Religion“ im vorchristlichen Sinne des Wortes: das „religiöse“ Einhalten von dem, was wir alle voneinander erwarten. Was ich sagen will: Man soll ruhig darüber meckern, aber dieses Gemecker um Gottes Willen nicht zu ernst nehmen. Sonst unterschätzt man die soziale Funktion dieses Brauchtums (einschließlich des Gemeckers darüber). Schon Kinder wissen etwas von den mehr oder weniger subtilen Verlogenheiten und Selbsttäuschungen der Erwachsenen: „Klar willst du nichts zu Weihnachten! Aber wenn dann gar nichts kommt, bist du auch enttäuscht!“ Recht haben sie.

Lob des Sinns

Natürlich meint sich das Gemecker gegen den übertriebenen Konsum nie als bloßes Brauchtum. Das wäre ja schlimm! Nein, denen, die uns alle gegen das bloße Konsumieren ermahnen und uns den heiligen Sinn des Festes wieder einschärfen möchten, ist es ja doch ernst. Wir sollen verstehen, worum es wirklich geht. Jesus! Das Herz! Die Liebe! Der Glaube! Das Wort! Und wo es nicht der religiöse Glaube, nicht das wahre Wort allein ist, da soll es wenigstens die richtige Haltung zur Welt sein! Das Geben! Das Teilen! Das Licht! Die Gemeinschaft! Und auch hier natürlich: die Liebe! Welche auch immer.

Meistens freilich werden uns in tausenden von Spendenaufrufen auch gleich wieder Wege gezeigt, wie wir unsere tiefinnerlich empfundene Liebe zur Gemeinschaft und den wahren Werten notfalls doch mit Geld dann zeigen könnten. Klar, gerade jetzt soll alles nicht nur nützlich und funktional oder schön und intelligent sein, sondern durch und durch gut, aus reinem Herzen kommend. Nicht nur in Kirchengemeinden, sondern auch auf diversen politischen und insbesondere kulturellen Veranstaltungen. Gerade da, etwa bei den Wohltätigkeitsgalen, müssen alle sogar ganz besonders laut sagen, wie sehr es ihnen auf dies und das „Äußerliche“ nicht ankomme, sondern auf das Innere. Das sich dann freilich auch bitte wieder „im Außen“ zeigen muss. Also, Sie sollten schon nicht im Jogginganzug zur Spendengala für dieses oder jenes Katastrophengebiet kommen, das wäre doch respektlos. Und wenn andere sehen, wieviel Sie spenden, ist das auch nicht wirklich schädlich.

Wir Erwachsenen kapieren das manchmal nicht mehr so schnell wie Kinder – zu gut sind wir an unsere permanent zu wiederholenden Gesinnungsbekenntnisse und ihre verschiedenen Grade der Ernsthaftigkeit gewöhnt. Darum will ich an einem ganz unweihnachtlichen Beispiel zeigen, wie da die Kulturtechnik der Veräußerlichung des Inneren und der doppelte Rittberger der Kritik am bloß Äußerlichen funktionieren. Vor der Weihnachtssaison liegt ja bekanntlich die Saison der Preisverleihungen, und wenn man nicht gerade ein superelitärer Nobelpreisträger ist, hat man sich da auch und gerade als Empfänger*in eines Preises an ein paar ungeschriebene Gesetze zu halten. Sie alle kennen inzwischen die Geste der dankbaren Oscar-Empfänger*innen und der Moderator*innen von Wohltätigkeitsgalen: Man fasst sich mit der rechten Hand an die linke Brust, in der man das Herz vermutet, und bewegt die Hand ein bisschen auf und ab, um allen zu zeigen: da ist es, es schlägt oder klopft oder zuckt, ist jedenfalls deutlich bewegt von dieser oder jener Darbietung oder Aktion. Ich unterstelle mal, dass die meisten Menschen diese Geste aufführen, wenn und weil sie wirklich berührt, bewegt oder gar aufgewühlt sind. Hat sich eine solche Geste aber einmal durchgesetzt, gerät nach einer Zeit jeder, der sie an der erwarteten Stelle verweigert, schnell in den Verdacht, es fehle ihm etwas – insbesondere in der Herzregion. Man sollte besser nicht auf sie verzichten. Ist es einmal so weit gekommen, liefert man jedoch diese Geste wiederum „nur“ aus „äußeren“ Gründen: um die Erwartungen nicht zu enttäuschen, um nicht blöd dazustehen etc. Das geht dann natürlich nicht. Da geht ja der Sinn verloren. Und das soll er doch nicht. Denn Sinn ist gut. Und muss gelobt werden.

Wer sich mit Religionen und ihrer Geschichte ein wenig auskennt, kennt auch diesen Ablauf: Religiöse Gründer- oder Reformergestalten nehmen Anstoß an der unvermeidlichen Routinebildung in bestimmten, ehemals geradezu revolutionären sozialen und religiösen Erneuerungsbewegungen. Sie kritisieren die Veräußerlichung im Brauchtum, setzen irgendeinen Rigorismus an seine Stelle, und ein paar Jahrzehnte später ist halt das zum Brauchtum geworden, was zuvor etwas Neues gewesen sein wollte. Und die Suche nach mehr Sinn im Innern und seiner Veranschaulichung im Äußeren geht von vorne los.

Lob des freundlichen Spottes

Es war der Dichter Heinrich Heine, dieses Jahr 222 Jahre alt geworden, der den Hintersinn der Veräußerlichung nicht nur des Sinnes, sondern auch des Gemeckers über sein Fehlen in der christlichen Selbstverstrickung sehr freundlich und bestimmt auf den Punkt brachte. Er tat das am Gegensatz zwischen Luthertum (Reformation! Besinnung auf das Eigentliche!) und Katholizismus (Wertschätzung des Alten! Verlogenheit als Kulturtechnik!):

„Ja, wenn man mich aufs Gewissen früge, würde ich eingestehn, dass der Papst Leo X. eigentlich weit vernünftiger war als Luther und dass dieser die letzten Gründe der katholischen Kirche gar nicht begriffen hat. Denn Luther hat nicht begriffen, dass die Idee des Christentums, die Vernichtung der Sinnlichkeit, gar zu sehr in Widerspruch war mit der menschlichen Natur, als dass sie jemals im Leben ganz ausführbar gewesen sei; er hatte nicht begriffen, dass der Katholizismus gleichsam ein Konkordat war zwischen Gott und dem Teufel, d.h. zwischen dem Geist und der Materie, wodurch die Alleinherrschaft des Geistes in der Theorie ausgesprochen wird, aber die Materie in den Stand gesetzt wird, alle ihre annullierten Rechte in der Praxis auszuüben….Du darfst ein schönes Mädchen umarmen, aber du musst eingestehen, dass es eine schändliche Sünde war, und für diese Sünde musst du Abbuße tun.“

Als Heine dieses schrieb – in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland: https://gutenberg.spiegel.de/buch/zur-geschichte-der-religion-und-philosophie-in-deutschland-378/1 – da herrschte im europäischen Geistesleben gerade „die Romantik“ vor. Man hatte dieses ganze Sinnzeug der Aufklärung und der Reformation ein bisschen über. „Äußerlich“ war es eh auch geworden – nur fehlte diesem Äußerlichen die schöne Patina und der Ewigkeitsbonus des älteren Brauchtums. Die Musik von Johann Sebastian Bach (Weihnachtsoratorium!), die, obwohl streng protestantisch betextet, uns heutigen eine solche Patina zu haben scheint, wurde zu Heines Lebzeiten eben erst wieder aus den verstaubten Archiven geholt, und wenn schon Kirche, so dachten die emotional ausgedörrten Kinder der Aufklärung, dann bitte lieber die richtige, die üppige, die, bei der es noch Bombast gibt und Schwelgen in Leiden und Sinnlichkeit!

Heine als Jude und ziemlich freier Geist ist da, wie man heute sagen würde, erstmal draußen und kann sich gepflegt amüsieren. In dem Buch freilich amüsiert er sich nicht nur, sondern er feiert Luther mit einer ausführlichen Zitation von dessen „Ein feste Burg ist unser Gott“, und am Ende schickt er jene berühmt gewordene Warnung vor Kantianern und Fichtianern in die Welt, die man immer mal wieder zitieren muss, wenn man verstehen will, wie sich aus einer so gebildeten, moralisch ernsthaften, gesinnungsfrommen Kultur etwas so Monströses wie die Shoah entwickeln konnte. Heine schrieb:

„Es werden Kantianer zum Vorschein kommen, die auch in der Erscheinungswelt von keiner Pietät (der vorchristliche Begriff von Religion!) etwas wissen wollen, und erbarmungslos, mit Schwert und Beil, den Boden unseres europäischen Lebens durchwühlen, um auch die letzten Wurzeln der Vergangenheit auszurotten.“[1] Als hätte er geahnt, was kommen würde. So ernst wird dann auch sein Ton. Und er ermahnt seine französischen Freunde, den Helm auf dem Kopf zu behalten. Das rate ich heute allen, die allzu ernsthaft mit aufs bloß Äuperliche meckern und verlangen, dass man „sich aussetze“.

Lob der Romantik

Aber diejenigen, die sich zu seiner Zeit in auffallender Begeisterungsbereitschaft von Reformation und Naturphilosophie, vom universalistisch-nüchternen Geist der Aufklärung ab- und einem heimatfrohen frommen Brauchtum zuwandten, das den Weihnachtsbaum erst noch flächendeckend durchsetzen musste, schienen vor allem zu hoffen, sich auf diese Weise mit einer Zeit verbinden zu können, die sie so gar nicht mehr kennen konnten. Oder die sie als das Schöne ihrer Kindheit zu erinnern vermeinten, als deren Unschuld. Oder die ihnen Leute glaubhaft als die goldenen Zeiten schilderten, in denen ein Bauer noch ein Bauer und ein frommes Gebet noch ein frommes Gebet war.

„Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, als Jesus allein.“

Gerade Ideologiekritiker*innen, die an diesem Gebet so ziemlich alles kritisieren müssen – das muckerhafte Lob der Kleinheit! Das noch reaktionärere Lob der Reinheit! Und zuletzt das völlig ungroßzügige Versprechen, dieses jämmerliche kleine Herzchen nun auch noch von allen menschlichen Bindungen frei und ausschließlich für Jesus vorzuhalten, du lieber Himmel! – gerade Menschen, denen alle diese Kritikpunkte mehr als geläufig sind, neigen dann manchmal dazu, sich in die Naivität solcher Kindergebete nur umso intensiver zurück zu sehnen. Das war damals, im 19. Jahrhundert so – und das scheint auch heute verbreiteter zu sein als uns lieb sein kann. Das reine Herz! Die wahre Liebe! Die Echtheit! Das Eigentliche!

Ob nun auf Natur und Klima bezogen oder auf den wirklichen geistigen und emotionalen Wert von Geschenken und der Vorbereitung eines feierlichen Abends in irgendwelchen Familienkreisen – die Sehnsucht nach etwas Stille, viel warmem Licht und wahrer Liebe, nach dem Guten in uns allen und dem Schönen in der Welt, sie wird sich (wie Heines „Sinnlichkeit der menschlichen Natur“) nie ganz „ausrotten“ lassen. (Hoffentlich! Sage ich.) An Weihnachten zeigt sich das eben nicht nur in der oftmals bespöttelten Gier so ziemlich aller Menschen nach „romantischer Liebe“, sondern überhaupt an einer großen Lust auf Romantik, die, egal wie verdruckst sie sich zeigt, doch nur bei sehr wenigen Menschen völlig ausbleibt. Sie findet sich nicht nur im zu Tode geleierten Christmas Carol von Charles Dickens, sie dürfte sich auch da aufspüren lassen, wo der kühle und grausame Laienanalytiker seines eigenen Liebeslebens oder seiner Geliebten nach irgendetwas „wahrhaft Liebevollem“ in ihr und in sich sucht und keinen Stein auf dem anderen, keinen Satz und keine Geste unanalysiert lässt, weil er es anders nicht finden zu können glaubt. Und als Sehnsucht findet sie sich eben auch in dem schon dem Kinderblick so furchtbar jämmerlichen Gewäsch über das Uneigentliche des konsumorientierten weihnachtlichen Wirtschaftsaufschwung.

Lob der Kritik

Freilich, wer noch halbwegs bei Sinnen und bei Verstand ist, lässt sich weder vom Konsumgetriebe in seinen persönlichen Entscheidungen zur besten Art, Weihnachten zu feiern, beeindrucken, noch von einer allzu eindeutig rückwärts gewandten Sehnsucht nach der vermeintlichen Reinheit eines allein von Jesus bewohnten Kinderherzen. Anders als Heine haben wir nicht nur den nichtreligiösen Faschismus des 20. Jahrhunderts hinter uns, sondern auch schon einige Erfahrung mit religionistischen Varianten faschistischer Tendenzen. Vom kleinsten Sektenführer bis zum aktiv und in großem Stil faschistischen Auftritt der Ultrareligiösen, der Herrschaften aus der Internationale der Religiösen Reaktion, setzen Führer und Verführer religiös überhöhter Gewaltherrschaften genau auf die romantische Sehnsucht potentieller Anhänger.

In ihren Predigten maßen sie sich an, die sogenannten Herzen der Gläubigen durch alle Arten von Purgatorien „rein“ fegen zu wollen – und wenn dann vom kleinen, gedemütigten Ich wirklich gar nichts mehr übrig ist, dann soll es durch den jeweiligen Herren (lacanianisch ausgedrückt, einen Herrensignifikanten!) ersetzt werden. Ob „Jesus allein“ oder Mohammed, ob ein „Führer“ oder ein „Anführer“ oder auch das „gute Gewissen, einer ganz großen Sache mit voller Hingabe zu dienen“ – wo immer sich ein solcher „Herrensiginifikant“ dort niedergelassen hat, wo normalerweise ein mehr oder weniger großes menschliches Ich sitzt, ist es mit dem Herzen im uns geläufigen Sinne natürlich in Wahrheit vorbei. Wer im Namen des großen „Wir“ mordet, brandschatzt und raubt, der darf das nicht nur, der muss das. Wenn er zufällig dabei sein eigenes kleines „Es“ bedient, ist das schließlich nur ein „Kollateralnutzen“, über den man sich ausschweigt. Gesprochen wird über die große Sache, den „Herrensignifikanten“.

Dem geläufigen Anti-Ego-Diskurs will das nicht immer gleich einleuchten: ist es denn nicht gut, wenn man einer Sache dient, die größer ist als man selbst? Ist es denn nicht kleinlich, wenn man, wie Scrooge im Christmas Carol, immer nur an sich und seinen Gewinn denkt?

Der Fehler ist in diesen Fragen schon enthalten: wie kommt man denn dazu, ausgerechnet dem Ich, jener tapfer zwischen allen fremden und eigenen Bedürftigkeiten pausenlos vermittelnden Führungskraft des Seelenlebens, zu unterstellen, dass es kleinlich sei und nur an sich denke? Es ist das Ich, das da sein muss, wenn jemand auch noch an andere will denken können. Ein bisschen ist das so wie in den Flugzeugen: wenn der Luftdruck fällt, brauchen Sie erst einmal selbst ausreichend Sauerstoff, bevor Sie anderen wirksam helfen können. Sonst brechen Sie und Ihr Sitznachbar, dem Sie helfen wollten, beide zusammen. Sind Sie hingegen gut genug versorgt, können Sie leicht noch jemandem zur Hand gehen, der es schwerer hat. Übrigens muss ja selbst dann, wenn Sie vielleicht in der Lage sind, selbstlos zu helfen, immer irgendein hilfsbedürftiges anderes Selbst vorhanden sein, dem die Hilfe auch hilft. Noch der Satz „ich danke dir“ setzt ein Ich und ein Du, das zu sich selbst „ich“ sagt, voraus. So ist es sprachlich. Und so ist es schließlich auch mit dem Gewissen, der Urteilskraft und der Fähigkeit, zwischen sinnvollem Aufwand in der Weihnachtszeit und übertriebenem Konsumquatsch zu unterscheiden. Haben Sie kein Ich, so werden Sie vielleicht wirklich in einen Zwang versetzt, allen alle Wünsche zu erfüllen und zu hoffen, dass die dann auch glücklich und irgendwie dankbar sind. Oder Sie haben Ihr Ich sorgsam ausgeschaltet, um jetzt das ganz große moralische Urteil der Konsumkritik an seine Stelle zu setzen. Dann werden Sie allen warm die Hände drücken, aber niemandem etwas schenken, sich selbst echauffieren, wenn Ihnen jemand was Teures überreicht und streng monieren, wenn es nicht umweltfreundlich oder sonst korrekt ist. Bestimmt finden Sie mit diesem Verhalten in irgendeiner Sekte durchaus Zustimmung. Ich will hier niemanden generell entmutigen. Aber bei vielen „Normalmenschen“ würden Sie doch bald in den Geruch eines irgendwie gestörten Sozialverhaltens kommen.

Sie könnten es auch machen wie ich und sich etwas zu ausführlich über die Konsumkritik und andere Kulturtechniken der Verlogenheit lustig machen. Dann würde man Ihnen recht schnell klar machen, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt, dass Ihnen nichts heilig ist, dass Sie unter Logorrhoe leiden, und dass Sie im Grunde Ihres Herzens banal egoistisch und sozial ein bisschen unterentwickelt sind, denn sonst würden Sie doch schweigend tun, was von Ihnen erwartet wird: Ihren Obulus an weihnachtlichem guten Willen zu entrichten, ohne die Forderungen allzu ernst zu nehmen, Sie würden den Konsumrausch geißeln, dabei gleichzeitig streng prüfen, wer wie viel wo gegeben hat – und genießen, was dennoch zu genießen ist. Dass der alte Scrooge selbst keineswegs seinem umsichtigen, auch für sein Herz sorgenden Ich, sondern nur dem Herrensignifikanten der Gewinnmaximierung diente, während der neue sagen konnte: „Ich freue mich so!“, verrate ich Ihnen beim Marzipan aus traditioneller Lübecker Produktion.

Gute Wünsche!

Wie immer Sie aber Ihr Ich, Ihr Selbst, Ihr Herz, Ihre großen Sachen und Ihre Lieben bei sich zueinander in Beziehung setzen: achten Sie nicht nur in der Weihnachtszeit darauf, dass sie Inneres und Äußeres auf eine Weise balancieren, dass es immer wieder schön und hell und herzlich zugehen kann. Haben Sie schöne Feiertage! Und freuen Sie sich gern auch ein bisschen über ein paar gute Ideen, die in irgendwelchen Randlagen der Welt plötzlich doch zu Ansehen gekommen sind, en arche en ho logos usw.

Vor allem aber: FEIERN Sie! FREUEN Sie sich. Das mit dem Herzen, das wird dann schon.


[1] Und weiter: „Es werden bewaffnete Fichteaner auf den Schauplatz treten, die in ihrem Willensfanatismus, weder durch Furcht noch durch Eigennutz zu bändigen sind; denn sie leben im Geiste, sie trotzen der Materie, gleich den ersten Christen, die man ebenfalls weder durch leibliche Qualen noch durch leibliche Genüsse bezwingen könnte; ja, solche Transzendentalidealisten wären, bei einer gesellschaftlichen Umwälzung, sogar noch unbeugsamer als die ersten Christen, da diese die irdische Marter ertrugen, um dadurch zur himmlischen Seligkeit zu gelangen, der Transzendentalidealist aber die Marter selbst für eitel Schein hält und unerreichbar ist in der Verschanzung des eigenen Gedankens. Doch noch schrecklicher als alles wären Naturphilosophen, die handelnd eingriffen in eine deutsche Revolution und sich mit dem Zerstörungswerk selbst identifizieren würden. Denn wenn die Hand des Kantianers stark und sicher zuschlägt, weil sein Herz von keiner traditionellen Ehrfurcht bewegt wird; wenn der Fichteaner mutvoll jeder Gefahr trotzt, weil sie für ihn in der Realität gar nicht existiert: so wird der Naturphilosoph dadurch furchtbar sein, daß er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, daß er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann, und daß alsdann in ihm jene Kampflust erwacht, die wir bei den alten Deutschen finden, und die nicht kämpft um zu zernichten, noch um zu siegen, sondern bloß um zu kämpfen. Das Christentum – und das ist sein schönstes Verdienst – hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo er kläglich zusammenbricht; die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt, und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome. Wenn Ihr dann das Gepolter und Geklirre hört, hütet Euch, Ihr Nachbarskinder, Ihr Franzosen, und mischt Euch nicht in die Geschäfte, die wir zu Hause in Deutschland vollbringen. Es könnte Euch schlecht bekommen. Hütet Euch das Feuer anzufachen, hütet Euch es zu löschen; Ihr könntet Euch leicht an den Flammen die Finger verbrennen. Lächelt nicht über meinen Rat, über den Rat eines Träumers, der Euch vor Kantianern, Fichteanern und Naturphilosophen warnt. Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden. Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt, der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte. jetzt ist es freilich ziemlich still; und gebärdet sich auch dort der eine oder der andre etwas lebhaft, so glaubt nur nicht, diese würden einst als wirkliche Akteure auftreten. Es sind nur die kleinen Hunde, die in der leeren Arena herumlaufen und einander anbellen und beißen, ehe die Stunde erscheint, wo dort die Schar der Gladiatoren anlangt, die auf Tod und Leben kämpfen sollen.“ Ein wahrhaft prophetischer Text.

Weihnachten einfach mal „bei sich bleiben“ – mit den allerbesten Wünschen!

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